Artikeltext
Spiegelreflex-Praktikum:
Blenden- oder Zeitautomatik?
Versuch der Klärung einer Streitfrage.
In die moderne Spiegelreflexkamera zieht die Automatik ein. Mit Rücksicht auf die universelle Anwendbarkeit dieser Systemkameras kann es sich natürlich nicht um eine vollautomatische Blenden- und Zeitenbildung handeln, denn diese bedingt ein Verschlussprogramm. Aber die Teilautomatik entweder der Blende oder der Zeit ist - im Zeitalter der Elektronik - im Kamerabau relativ leicht zu verwirklichen. Nach eingehender Beschäftigung mit dem Problem der „Teilautomatik" in der Spiegelreflexkamera darf ich zunächst einmal feststellen, dass es sich hierbei durchaus nicht um eine „Modekrankheit" handelt, sondern vielmehr um einen echten Fortschritt. In jedem Fall, ob Blenden- oder Zeitautomatik, stellt die Automatik in gewissen Aufnahmesituationen eine echte Entlastung des Fotografierenden dar. Die Frage bleibt nur, welcher Automatik der Vorzug zu geben ist - der Blenden- oder der Zeitautomatik? Zunächst wollen wir uns das Diagramm (rechts) betrachten. Auf der unteren Linie sind die Lichtwerte (das Diagramm ist bezogen auf Film 18 DIN) von 1-17 aufgetragen, links (ansteigend) die Blenden von 1,4-32, rechts (reziprok, d. h. abfallend) die Verschlusszeiten von 4 Sekunden bis 1/2000 sek. (dies entspricht dem Zeitenbereich elektronisch gesteuerter Schlitzverschlüsse). Um das Diagramm nicht unübersichtlich zu machen, habe ich jeweils nur 3 Zeitenlinien und 3 Blendenlinien eingetragen. Zunächst fällt auf, dass die Verschlusszeit-Automatik (wegen ihrer großen Zeitenspanne) einen wesentlich größeren Lichtwertbereich überbrücken kann (bei Blende 8 z. B. von LW 4 bis LW 17). Bei der Blendenautomatik ist dieser Bereich deutlich kleiner (bei 1/125 sek. z. B. von LW 8 bei Blende 1,4 bis LW 15 bei Blende 16). Durch Wahl anderer Verschlusszeiten verschieben sich die Bereiche jeweils nach unten (1/30 sek. von LW 6 bis LW 13), oder nach oben (1/1000 sek. von LW 10 bis LW 17). Wenn man also nach dem Diagramm der Zeitenautomatik geht, stimmt es, dass der LW-Bereich wesentlich größer ist.
Nun fotografieren wir in vielen Fällen aus der Hand. Diese Tatsache engt natürlich unsere Zeitenskala wesentlich ein (waagrechte Linie bei 1/30 sek.). In diesem Fall reicht - bei der Zeitenautomatik - Blende 4 von LW 9-LW 15. Vorausgesetzt, wir benutzen ein Objektiv mit einem so großen Blendenbereich, ist der Bereich der Zeitenautomatik gegenüber dem der Blendenautomatik tatsächlich, bei Aufnahmen aus der Hand, kleiner.
Hurra! Höre ich die Verfechter der Blendenautomatik bereits rufen. Aber gemach, liebe Freunde, so einfach ist das nicht. Sobald nämlich der Blendenautomatik-Kamera-Besitzer ein Objektiv mit geringer Anfangsöffnung benutzt, z. B. ein Objektiv mit f=4, wird wiederum sein Bereich wesentlich kürzer (bei 1/125 sek. von LW 11 bis LW 16, weil man bei diesen Objektiven eine kleinste Blende 22 zugrunde legen kann).
Die Verfechter der Blendenautomatik sagen mit Recht dieser Automatik konstante Verschlusszeiten nach. Es ist auch unbestreitbar, dass die konstante Verschlusszeit wesentlich für das Gelingen der Aufnahme ist. Der Blende kommt bei der Qualität moderner Objektive und den relativ genauen Entfernungsmessmöglichkeiten moderner Spiegelreflexkameras tatsächlich eine untergeordnete Bedeutung zu. Die Blendenautomatik als das „Ei des Columbus" hinzustellen, wäre aber vollkommen falsch. Sie hat einen, unter Umständen
gravierenden Nachteil. An einer Kamera mit Blendenautomatik können nur Objektive verwendet werden, die speziell für diese Kamera gebaut sind. Sie müssen ja mit einem Übertragungsmechanismus für die Steuerung der Blende von der Kamera aus versehen sein. Die Eingabe des Blendenwertes in das Objektiv kann:
a) mechanisch erfolgen (z. B. Konica). In diesem Fall muss der Belichtungsmesser mit einem Zeigerinstrument ausgestattet sein. Die Zeigerstellung (abhängig von der Lichtmenge) wird abgetastet und beim Druck auf den Auslöser mechanisch (als Blendenwert) auf das Objektiv übertragen. b) mechanisch-elektrisch erfolgen. Ein kleiner Servomotor steuert die Blende. Eine elektronische Regelschaltung versorgt den Servomotor direkt aus der Messzelle mit dem Steuerimpuls. c) durch eine Magnetblende erfolgen, die von einem Prozessrechner direkt gesteuert wird (Rolleiflex SLX 66, noch nicht auf dem Markt).
Es ist also nicht von der Hand zu weisen, dass Kameras mit automatischer Blendensteuerung nur dann funktionieren, wenn das speziell für diese Kamera geeignete Objektiv direkt mit der Steuereinrichtung gekuppelt ist. Verwendet man andere Objektive oder Balgengeräte ohne Übertragungseinrichtung, ist die Blendenautomatik futsch. Anders bei der Zeitautomatik. Hier wird die Verschlusszeit stets auf elektronischem Wege direkt aus dem elektrischen Signal der Messzelle gebildet. Mit Ausnahme der üblichen Blendensimulatoren für die Offenblendenmessung die Steuerung der vorgewählten Spring- oder Druckblende (gehört alles zur normalen Ausstattung einer modernen Spiegelreflexkamera) ist das Objektiv an dieser Automatik unbeteiligt. Jedes Objektiv ist verwendbar. Auch ist es gleichgültig, ob man mit der Offenblendenmessmethode oder mit der Arbeitsblende arbeitet. Die richtige Verschlusszeit bildet sich in jedem Fall automatisch. Da diese Verschlusszeit im Sucher eingespiegelt ist, kann man durch Wahl der entsprechenden Blende jede gewünschte bzw. mögliche Verschlusszeit wählen. Kameras mit dieser Automatik können also praktisch mit jedem beliebigen Objektiv, Zwischenring oder Balgengerät benutzt werden - ohne Verzicht auf die Automatik. Zwei Beispiele sollen zeigen, dass die Zeitautomatik sehr gut für anspruchsvolle, fotografische Arbeiten geeignet ist: 1. Makroaufnahmen. Nicht die Zeit, sondern die Blende ist wichtig. Wegen des großen Zeitenbereichs (siehe Diagramm) bildet sich automatisch die richtige Belichtungszeit. Da durch das Objektiv gemessen wird, wird der Verlängerungsfaktor automatisch berücksichtigt. 2. Sportaufnahmen mit langen Tele-Objektiven (z. B. 1: 5,6/400
mm). Man fotografiert sowieso stets mit voller Öffnung. Automatisch stellt sich stets die kürzestmögliche Verschlusszeit ein. Bei der Blendenautomatik hat man zwar konstante Verschlusszeiten, doch kann es sehr wohl passieren, dass man eine Verschlusszeit wählt, zu der es bei den im Augenblick der Aufnahme herrschenden Lichtverhältnissen keine Blende mehr gibt. Dann wird unterbelichtet. Man sieht, beide Automatik-Systeme haben Vor- und Nachteile. Es kommt wieder einmal allein auf den Anwendungsbereich an. Aus den vorliegenden Zeilen sollte sich eigentlich jeder, der an solchen Kameras interessiert ist, selbst ein Urteil bilden können, welches System für seine fotografische Arbeit interessanter ist. Die Blendenautomatik ist es fraglos für alle, die „normal" fotografieren, d. h. in normalen Aufnahmebereichen mit normalen Brennweiten (vom Weitwinkel bis zum Tele von ca. 180 mm Brennweite), die nur ganz selten in extremen Aufnahmegebieten (Makro usw.) fotografieren und dann bewusst auf die Automatik verzichten.
Die Zeitautomatik hingegen erlaubt mehr Freizügigkeit, ist aber bei Bewegungsaufnahmen mit kurzen Zeiten insofern gefährlicher, als man die sich bildende Zeit genau im Sucher verfolgen muss, um nicht in zu lange Verschlusszeiten zu geraten.
Barnim A. Schultze in Color Foto 2/1974
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