Artikeltext

Bild-Journalismus Und 50 Jahre Leica Als die seefahrende Welt ihn brauchte, erfanden die Chinesen den Kompass. Die Zeit war reif für seine Entdeckung. Wieder einmal reif - diesmal für etwas ganz anderes war die Situation vor 50 Jahren. Und da stand es auch schon in den Schaufenstern, mitten in einer verunsicherten Welt, umgeben von wirtschaftlicher Depression - glitzernd und selbstbewusst, voller Optimismus: Das erste Modell der Leica .. . Wer aber konnte damals, im Jahre 1925 ahnen, welche Impulse jene handtellergroße Kamera-Neuheit, die auf der Leipziger Frühjahrsmesse erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, einmal auslösen würde? Die zwanziger Jahre brachten viele Sternschnuppen und nur wenig Beständiges hervor - auch die Fotografie machte ihre Entdeckungen. Aber sie hatte es schwer. Die hektischen Ereignisse liefen den damaligen Fotoapparaten förmlich davon. Sie alle waren zu langsam, zu umständlich. Heute wissen wir: Die Weichen waren schon gestellt - Jahre vorher, nämlich als 1914 die wichtigsten Konstruktionsmerkmale der kleinen kinofilmgeladenen Kamera von Leitz in Wetzlar zum Patent angemeldet wurden. Zwei Fakten führten dann zur unternehmerischen Entscheidung, die Kamera zu bauen und ihre Fertigung in den Produktionsablauf der Optischen Werke zu integrieren: Überall wollte man billiger fotografieren und zum anderen brauchte Leitz ein zukunftsträchtiges Produkt zur Erhaltung der Arbeitsplätze. Die Konstellation war günstig für Oskar Barnacks Lieblingsidee, die er nun endlich aus ihrem Schubladen-Dasein befreien und mit Mikroskop-Präzision bauen durfte. Als Dr. Erich Salomon noch mit der damals sensationell lichtstarken Platten-Ermanox seine berühmten Völkerbund-Reportagen vornehm und distinguiert belichtete, hatte die Leica bereits ihre entscheidenden Verbesserungen hinter sich und war auf dem Wege, die fotografierende Welt zu revolutionieren. „Life" wurde in Amerika aus der Taufe gehoben. Alfred Eisenstaedt, der schon 1932 mit seinen Bernhard Shaw-Fotos Aufsehen erregte, war von Anfang dabei und ohne seine Leicas wäre auch der revolutionäre Life-Stil nicht denkbar gewesen. Niemals zuvor waren Foto und Journalismus so verzahnt wie auf den erregenden, raffiniert umbrochenen Seiten dieses jungen Weltmagazins. Hier war der Bildjournalist nicht mehr irgendwelchen glücklichen Zufällen ausgeliefert, sondern arbeitete zielbewusst mit klar umrissenem Auftrag in der Tasche. Aus passiv beobachtenden Reportern wurden aktiv beteiligte Interpreten des Geschehens! „Mein optisches Repetiergewehr von knapp 14 cm Länge war ein Stück meines Körpers geworden, ein zusätzliches Sinnesorgan ... Aus solcher zupackender Vitalität heraus waren schon die Leica-Pionierleistungen aus dem Pariser Leben von Andrö Kertesz entstanden und Willard Morgans Wüsten-Studien des amerikanischen Westens, womit er die Leica für America „marktreif" gemacht hat. Trotzdem war der Weg oft dornenreich. Während Mr. Nast, der Publisher von „Vogue" den bereits weltbekannten Henri Cartier-Bresson nicht beschäftigte, weil er keine Studiokamera verwendete, tauschte Albert Boni gerade seine Graflex 4x5 gegen eine Leica ein. „Ich erhielt noch 50 Dollars zurück - es war der beste Tausch meines Lebens." Alle Leica-Pioniere jener frühen dreißiger Jahre hatten auch engen Kontakt mit dem Herstellerwerk, wirkten mit an der Vervollkommnung ihres lebenswichtigen Werkzeugs, gaben Anregungen, die bei Leitz, einer Hochburg subtiler Technik, mit Wetzlaer Sorgfalt geprüft und gegebenenfalls realisiert wurden. „Theorie war ihm nichts - probieren alles", schreibt H. Stöckler über den Vater der Leica, Oskar Barnack. Um die Leica II herum, mit ihrem für Jahrzehnte gültigen Image, gruppierte sich - wie zierliche Bausteinchen - das einzigartige Zubehör-System. Nichts Sichtbares im Tele- und Makrobereich entging damit ihrem Zugriff. Heute, wo ein Vielfaches an Technik in den Kamerakörper eingebaut ist, wo uns eine kompakte Miniatur-Elektronik jedes Risiko abnimmt, lächeln wir vielleicht über die mannigfaltigen Aufstecksucher, Ansatztuben, Schraubringe, Reprofüßchen oder Belichtungshilfen. Und dennoch können wir unsere Bewunderung nicht unterdrücken, wenn wir solch ein diamantgedrehtes Messinggewinde von damals mit der Lupe studieren oder gar nach Toleranzen des winzigen Entfernungsmessers fahnden. Kompromisse? Die gab es überall, nur nicht am Geburtsort der Leica. Dafür verbürgte sich mit seiner persönlichen Ehre ein jeder „Leitzianer". Dieser seltene Menschentypus verbindet in sich mehrere, seit Generationen vererbte und kultivierte Eigenschaften: Fanatismus für Perfektion, Forschergeist, Bastel-Talent, Naturliebe, sportlichen Ehrgeiz, ein wenig Spieltrieb und ein unbestechliches Auge. All dies steigert sich an der Drehbank, am Justiergerät zur Unerbittlichkeit. Solch ein Mitarbeiter-Stamm ist zu keiner Zeit aus dem Boden zu stampfen - er muss gewachsen sein, in einer Umgebung, die nur alten Familienunternehmen eigen ist, wo „Konservativ" nicht Stillstand heißt, sondern Achtung der menschlichen Werte. Selbst wer nie im Werk gewesen ist, kann es erfahren - mit der Fingerspitze, mit dem Ohr - wenn der Verschluss einer Leica II von 1932 abläuft oder der Spiegel einer Leicaflex repetiert. Vielleicht verstehen wir dann die Leica-Enthusiasten, wenn sie der Nostalgie frönen. Weshalb zum Beispiel finden wir die umfassendsten historischen Leica-Sammlungen im Ausland, Leicasammler, die dort ihre kostbaren Stücke wie Preziosen behandeln, die mit Freunden darüber korrespondieren, tauschen und Auktionen besuchen? Wissen etwa Ausländer unsere deutsche Gründlichkeit doch noch höher zu schätzen als wir selbst? Wenn Leica-Besitzer eine eigene Hierarchie bilden und Zunft-Allüren an den Tag legen, verwundert es nicht, dass auch die Literatur über und um die Leica exklusiv erscheinen muss. Natürlich dominieren auch hier die Fremdsprachen-Ausgaben, die Zeitschrift „Leica-photography" an der Spitze. Wie notwendig laufende Informationen über die ständigen System-Erweiterungen sind, bestätigen biochemische Labors in Pennsylvania, eine Gruppe der Max Planck Gesellschaft, ein Flugzeugwerk in Frankreich, ein medizinisches Bildarchiv, ein Materialprüfungsamt, eine Schiffahrt-Versuchsanstalt, ein Forscher in Schweden, ein geologisches Institut in Südafrika, eine Hochschule für Veterinärmedizin, ein Archivar in Wien. Wieder war die Zeit reif. Als nämlich eine technisierte Welt fotografische Dokumentationen ihrer Forschung brauchte, als damit Rationalisierung erreicht und Informationsbedürfnisse bewältigt werden konnten, war das System bereits darauf ausgerichtet. Die Leica mit ihrer einfachen Adaption an wissenschaftliche Geräte und dazu ihr wirtschaftliches Filmformat wurde zur gewohnten Erscheinung in den Instituten und Labors. Leica-Dias waren bald ein bedeutendes Verständigungsmittel unter Experten und Forschern. In den Hörsälen strahlten metergroß optische Bestätigungen mancher Theorie und die Bildstellen konnten Schulen und Universitäten endlich mit optischen Lehrmitteln auf breiter Ebene beliefern. Die Kohler-Beleuchtung im Leitz-Mikroskop, die Phasenkontrasteinrichtung, das Polarisationsmikroskop und andere mikrooptische Errungenschaften waren durch exakte Fotos jederzeit auswertbar und überallhin zu verschicken. Jetzt erscheint uns dies selbstverständlich, doch es hat Zeiten gegeben, die kaum eine optische Verständigung unter Wissenschaftlern ermöglichten. Die literarischen und wissenschaftlichen Werte der Tagebücher und Berichte eines Robert Scott, eines Nansen sind unbestritten - dennoch, sind sie vergleichbar mit den Leica-Aufnahmen Herbert Tichys im Himalaya? Die weißen Stellen auf dem Globus schrumpften von Jahr zu Jahr und auch kleinere Expeditionen vermochten unter minimalem Aufwand an Gepäck ein Maximum an fotografischer Ausbeute mitzubringen. Da war es kein Zufall, wenn die Liste der „Ehren-Leicas" mit markanten Fabrikationsnummern von Namen wie Sven Hedin, Byrd, Prof. Filchner, Dyhrenfurth oder Piccard angeführt wurde. Die Klimaverhältnisse unserer Erde sind nun einmal sensiblen Fotogeräten nicht sehr bekömmlich, umso schneller wurde unter Forschern und Expeditionsteilnehmern bekannt, wie unempfindlich die Leica-Mechanik gegen Kälte und Hitze ist. Selbst die Dschungelfeuchte während der Frobenius-Unternehmen in Afrika hielt sie aus. Vor den chemischen Neuerungen hatten die optischen stets einen Vorsprung. Leitz-Objektive lösten mehr Linien pro Millimeter auf als die mittelempfindlichen Gebrauchsmaterialien. Beim Blättern in alten Heften der „Leica-Technik" von Curt Emmermann erleben wir nicht ohne Schmunzeln, wie viel Mühe aufgewendet wurde, um die Feinkörnigkeit damaliger Filme über Entwicklerrezepte nur ein wenig zu verbessern. Damals praktizierte das Bauhaus in Dessau unter Künstlern die „Neue Sachlichkeit" - sie war in aller Munde und es galt, auch das Leica-Foto vom Nimbus ungenauer Impression in die Regionen dokumentarischer Wahrheit zu lenken. Dr. Paul Wolff's Bücher schlugen die Brücke. Eine Bildlyrik mit fotografischer Akkuratesse vorgetragen, konnte leicht überzeugen. „Meine Erfahrungen mit der Leica" und auf dem Umschlag sein einprägsames Selbstporträt (Arzttypus mit glitzernder Kamera) wurde dann auch zur Bilderbibel suchender Amateure. Den eigentlichen Impuls für die Fotografie als Volkssport aber lösten zwei Chemiekonzerne aus. Kodachromefilme aus Rochester und Agfacolor aus Wolfen. Die bunt strahlende Leinwand wurde zum Mittelpunkt des Familienlebens und der Fotoclubs. Ein 5 x 5 cm Diarähmchen konnte Begeisterungsstürme auslösen, wenn vor allem die Wunder der Nahaufnahme metergroß ausgebreitet wurden, hier war die Leica in ihrem Element, denn auch den Spiegelkasten gab es schon. Genau so lebenswichtig wie die ersten Projektoren war der Einbau der 1/1000 Sekunde in das Leica-Modell III a, denn die Olympiade stand vor der Tür. Moderner Hochleistungssport forderte die Technik heraus - auf allen Gebieten, vom Tribünenbau bis zur Zeitnahme. Damals erregten die Japaner durch ihre Sprungkraft Aufsehen. Lothar Rübelt versuchte im Auftrag der „Berliner Illustrierten" den Absprung eines japanischen Stabhochspringers festzuhalten. „Auf dem Film konnte ich dann diese Aufnahme nicht finden, die mit dem 90 mm Tele gemacht war." Stattdessen entdeckte er auf den Negativen eine großartige Totale mit dem 50 mm Elmar geschossen. Das Bild wurde als Sensation ganzseitig gebracht. Wo die andere Aufnahme geblieben war, kann sich Rübelt bis heute nicht erklären. War es der Objektivdecke[? Hatte er das 90iger gar nicht verwendet? Rechtzeitig erschien die Leica 250 mit 10 m Kassette, rechtzeitig bekam sie das Telyt 400 mm vor dessen „Kanonen-Image" Hitler einen Attentat-Horror hatte, dass Hanns Hubmann damit nicht in seiner Nähe fotografieren durfte. Rechtzeitig wurde auch der Schnelltransport im Kameraboden fertig. Die Führungsposition der Leica bei Sport und schneller Reportage wurde offenbar. Nach zehn Jahren Leica war die Welt anders geworden und hatte sich gewandelt durch die Kommunikation Hunderttausender gedruckter Bilder. Der Rotationsdruck großer Massenauflagen machte es möglich. Jedes Ereignis - wo es auch stattfand - konnte zwei Tage später druckreif als Bildserie auf den Redaktionstischen liegen. Der Luftverkehr beschleunigte die Verbindung. Belichtete Filme wurden in die Heimatlabors geflogen, die auf Leicafilm-Schnellverarbeitung spezialisiert waren. Cartier-Bresson hatte das Prinzip bei „Magnum" zur Perfektion ausgebaut. Plötzlich hatte jedermann Anteil an den politischen Treffen, an Festen und Katastrophen in fernen Kontinenten, an Freude, Leid und Können, am Versagen und am schauerlichen Verbrechen, am Unrecht und am großen Vorbild. Die Leica hätte in diesen Jahren einen noch intensiveren Beitrag zur Verständigung leisten können, wäre die deutsche Publizistik nicht derart isoliert gewesen und mit Zensuren belegt worden. Wie keine andere Kamera hat uns die Leica gelehrt, mit der fotografischen „Objektivität" zu manipulieren. Wurde sie damit zum Danaer-Geschenk, zu einem gefährlichen Instrument? Haben ihre Erbauer damit gerechnet, dass man mit einem 28 mm Weitwinkel das menschliche Antlitz heimtückisch entstellen und ebenso eine Kathedrale als Ganzes erfassen kann? Diktatoren - an der Spitze Hitler - verlangten die Vorlage aller Fotos ihrer Person zur Zensur, ehe sie veröffentlicht werden durften. Demokratische Politiker haben die Entscheidung dem Redakteur übertragen, doch operiert wird auch heute mit diesem hochbrisanten Medium, in Politik, Sport und Wirtschaft. Vom Leica-Schnappschuss, nach dem der unvergessene Ludwig Hohlwein in München seine spritzigen Plakate aquarellierte, bis hin zur modernen Multimedia-Show war die Leica immer ein Medium mit kreativer Überzeugungskraft. Selbst wenn der Tourist die blaue Mittelmeerbucht auf Mallorca weit enger wieder findet als sie ihm die Weitwinkelaufnahme im Prospekt präsentierte - er wird es dem 24 mm Objektiv, genauer dem Elmarit-R 24 mm verzeihen, denn sein Urlaub war trotzdem bezaubernd. "Corriger la fortune" sagt der leichtblütigere Franzose und verriegelt ein Telyt 250 mm in seiner Leica. Was ist schon objektiv, was „richtig"? Vielleicht der fotografierte Tod. Nach Robert Capas tödlichem Reportereinsatz im Indochinakrieg schrieb John Steinbeck über ihn: „Die Kamera kann das andere Ende des Verstandes und Herzens sein." Die Verbesserung der Messgenauigkeit hatte dem Xenon 1: 1,5 die Chance gegeben, auch bei minimaler Schärfentiefe der vollen Öffnung präzise abzubilden - im gleichen Jahr 1936 starb Oskar Barnack. Die Leica entdeckte die Nacht, Theater, Revue, Zirkus und glanzvolle Feste waren ihr zugänglich, doch auch Fabriken, dämmerige Armenviertel und makabre Domizile. Authentische Live-Bildnisse entstanden im intimen Lebenskreis der Abgebildeten, in ihren Wohnungen, Studios und Werkstätten. So konnte die kleine Kamera in den Händen einer neuen Generation zum Werkzeug für eine vom Geist getragene Foto-Gestaltung werden. Sie war dazu prädestiniert, für erste Ansätze einer Meinungsbildung, einer Stellungnahme und einer direkten Ansprache durch das wahrhaftige Foto. Mit dem erneuerten Bildbewusstsein erwachten - noch latent - wieder demokratische Züge und die Fähigkeit, kritisch zu denken. Grundlage für all das war eine perfekte Technik. Ein Hektor 135 mm in Los Angeles gekauft, passte absolut messgenau an das Leica-Gehäuse Nr. 135621 aus Frankfurt. Man trat aus dem Laden und fotografierte damit. Das war damals einmalig, einfach wunderbar. Wetzlar wurde zum Idol einer fotografierenden Elite. Ob Eisenstaedt mit seinen Leicas die Großen der Welt abbildete oder ein naturliebender Schrankenwärter im Schwarzwald sich seine Leica mühsam vom kleinen Gehalt absparte, um damit Gräser und Blüten aufzunehmen - eines verband beide miteinander: Die Begeisterung für ein derart subtiles Produkt, das solch Vollkommenes zustande bringt. Soll man es prophetisch deuten, wenn Leitz 1939 das Kameragehäuse nun aus stabilem Druckguss herstellt, wenn ein Federwerksmotor entwickelt wurde? Die Feuerprobe begann in Polen und endete in Berlin. Nein, nicht nur in den Tragflächen der Stukas, im russischen Winter 43 musste sie sich bewähren - auch nachher, als die Leica-Währung" zum Begriff des stabilsten Zahlungsmittels geworden war. Durch glückliche Umstände war die Leitz-Produktion kaum unterbrochen worden und schon 1948 erwarb sich mancher mit Geschick aus den nur für die Sieger reservierten Beständen auf abenteuerliche Weise eine der begehrten Leicas, um damit die neue Existenz zu gründen. Da tauchten sie plötzlich auf: Jene spektakulären Nachbauten, denen man in Wetzlar seinerzeit schutzlos ausgeliefert war. Doch gehörte nicht viel technischer Spürsinn dazu, den Unterschied zu erkennen. Wenn ihn die Hand am Gewindetrieb nicht spürte, so spätestens das Auge beim Anschauen der Ergebnisse. In Wetzlar konnte man diese Welle mit Ruhe abwarten und entwickelte unbeirrt im Hinblick auf kommende Elektronenblitz-Technik die raffinierte Il f und III f mit variabler Zündanpassung, baute die Objektivserie bereits mit neuen Glasschmelzen noch farbtüchtiger aus und bereitete ganz Neues vor. Die Leitz-Canada-Gründung brachte durch die dortige Computer-Technik die optische Rechenarbeit einen Riesenschritt vorwärts. Ketzerei? Ausgerechnet mit der Leica wurde die gewollte Unschärfe, die verwischte Bewegung, die Farb-Impression entdeckt. Alles in diesen Verfremdungen war eine „Spiegelung" unserer jüngsten Zeit mit ihren Fragwürdigkeiten, ihren Risiken und der Umkehrung aller Werte . . . Ernst Haas demonstrierte, wie kein anderer, Transzendenz im Lichtbild, einerseits mit dem Symbolwert jener Effekte, andererseits durch sein intensives Mitgefühl, sein Miterleben der Situation. Der Fotograf unserer Zeit hat gelernt, wie man im Sekundenbruchteil das Geschehen analysiert und tiefere Zusammenhänge erfasst. Die heutige Dramaturgie im Still-Foto bedient sich aller Mittel der Bewegung, des Lichteinfalls, der Raumwirkung, der (Un-)Schärfe und schließlich der Farbe. Ohne die Leica, dem Vorbild aller Konstruktionen wäre der jetzige Bildstil nicht denkbar - es fehlten dann die experimentellen Jahre, die zielstrebig dahin führten. Die Leicaflex SL - passt sie eigentlich ins Leitz-Programm? Hat sie auch die leicagemäße zupackende Dynamik wie die E-Messer-Leica? Nun, sie ist die schnellste ihres Typs und mit ihrem neuartigen Messraster ist sie auch eine „E-Messerkamera", sogar mit Weitwinkelobjektiven einstellgenau. Dazwischen liegt die Epoche der Leica M3 mit ihrem automatisch schaltenden Leuchtrahmen-Messsucher für mehrere Brennweiten, wiederum die schnellste ihrer Art. Wie man von Leitz erwartet, steht beiden - doch so unterschiedlichen - Kameratypen das gesamte Zubehörprogramm zur Verfügung. Die kleine Leica CL beweist uns, wie sehr man bei Leitz mit den täglichen Gegebenheiten verbunden bleibt. So klein, wie bei Leitz-Ansprüchen eben noch vertretbar, dabei so vielseitig wie keine in diesen Dimensionen: Mit Wechselobjektiven der großen Leica M Serie verwendbar, mit selektiver Lichtmessung durch das Objektiv wie bei der M5 und mit Leuchtrahmenmesssucher. Dies alles durch einen nunmehr senkrecht ablaufenden Verschluss in das Kompakt-Gehäuse hineingepackt. Blicken wir diese fünfzig Jahre nun nochmals zurück, auf die Veränderungen durch gesellschaftliche und technische Umstürze bedingt - so mögen wir feststellen, es gab nur wenige Dinge, die in jenen Wirren so beharrlich ihren Weg verfolgten wie die Schöpfung der Leica. Joachim Giebelhausen in Color Foto 6/1975 {ewl Thnhlp32.dll,THIN,SKIN.LZH;STEIMERM.BMP}