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Zum 150. Todestag eines fast vergessenen Fotopioniers
Die Fotografie beginnt mit Niepce
Wie viele großen Ideen und Erfindungen, so wurde auch die Fotografie nicht von einem einzigen Menschen "erfunden". Sie hat - wie bekannt - mehrere "Väter". Einer von ihnen ist der zu Unrecht lange Zeit in den Hintergrund gedrängte Franzose Nicephore Niepce; am 5. Juli jährt sich sein Todestag zum 150. Mal.
In seiner "histoire de la photographie" (Paris 1945) schreibt der französische Fotohistoriker Raymond Lecuyer: "Die Fotografie beginnt mit Niepce". Er stellte damit einen Mann heraus, der über ein Jahrhundert im Schatten seines einstigen Teilhabers Louis J. Mande Daguerre gestanden hatte. Heute ist durch die Arbeiten der Fotohistoriker Victor Fouque, Georges Potonniöe und Raymond Lecuyer nachgewiesen, welch großer Anteil an der Erfindung der Fotografie dem am 7. März 1765 geborenen Nicephore Niepce zukommt. Beaumont Newhall hat ihn einen der "Väter der Fotografie" genannt. Für die Öffentlichkeit ist es heute eine Selbstveständlichkeit, daß zu seinem 150. Todestag am 5. Juli dieses Jahres eine Sondermarke der französischen Post erscheint.
Nicephore Niepce wurde 1765 in Chalone sur Saone geboren, wo seine Familie ein Haus in der Stadt und auch einen Landsitz namens Le Gras in dem Dorf Saint-Loupde-Varennes hatte. Die Revolutionswirren überstand die Familie Niepce in Nizza. Nicephore, der eigentlich Geistlicher hätte werden sollen, wurde Offizier in der Armee Napoleons. Aus gesundheitlichen Gründen nahm er 1801 den Abschied und kehrte nach Chalon zurück, wo er sich für den Rest seines Lebens mit verschiedenartigen naturwissenschaftlichen Forschungen beschäftigte.
Um 1815 begann sich Nicephore mit der Lithographie zu befassen, die im Jahre 1796 von dem Münchner Alois Senefelder erfunden worden war und sich bei Künstlern und Amateuren großer Beliebtheit erfreute. "Die Lithographie" - so beschreibt dies Newhall - "beruhte auf dem Prinzip, daß eine bestimmte Art von Schiefer sowohl Wasser als auch Fett annahm. Der Künstler entwarf das Bild direkt auf dem Stein und zwar mit Hilfe eines Fettstiftes. Jeder Strich drang in den Stein ein. Dieser wurde dann angefeuchtet. Das Wasser wurde an jenen Stellen vom Stein angenommen, die keine Zeichnung trugen; dort aber, wo sich fettige Substanz befand wurde es abgestoßen. Dann wurde Farbe mit einer Walze auf den Stein aufgetragen. An den Stellen der Zeichnung wurde die Farbe festgehalten, der nasse Stein dagegen nahm sie nicht an. Darauf legte man Papier über den Stein und drückte es fest an, so daß sich die Farbe auf das Papier übertrug, und so eine getreue Wiedergabe der Zeichnung zustande brachte". Nicephore, der zeichnerisch unbegabt war, interessierte sich vor allem für die technische Seite des Verfahrens. Bei seinen Experimenten hatte Niepce entdeckt, daß Judenpech (eine Asphaltsorte, die damals vielfach von den Kupferstechern benutzt wurde) erhöht lichtempfindlich ist -normalerweise ist das Judenpech in Lavendelöl löslich, nach der Belichtung hingegen verliert es diese Löslichkeit. Es war diese Beobachtung, die es Niepce ermöglichte, die Arbeit des Künstlers durch Einwirkungen des Lichtes zu ersetzen. Was Niepce entdeckt hatte, wurde später "Fotogravüre" genannt.
"Selbstdarstellung" mit der Kamera
Das Prinzip eines lichtempfindlichen Hintergrundes bildet die Grundlage für alle fotomechanischen Verfahren, die uns in die Lage versetzen, Bilder mit Hilfe der Druckpresse wiederzugeben. Niepce sah darin aber nur einen Schritt zu seinem Ziel, auf irgendeine Weise zu erreichen, was man "Selbst-Darstellung" der natürlichen Welt mit Hilfe der Kamera genannt hat. Dieses Ziel kenne ich aus dem Briefwechsel, den Nicephore mit seinem Bruder Claude über seine Experimente geführt hat: In seinen Briefen beschreibt Nicephore auf das Klarste, was er zu erreichen suchte: Bilder, die in einer Camera obscura dadurch entstehen, daß Licht durch ein Objektiv fällt und ein getreues Abbild der Natur entwirft.
Durch seine ersten Erfolge ermutigt, richtete sich Nicephore auf seinem Landsitz in Gras in zwei Räumen ein Studio ein, von denen einer als Dunkelkammer diente. Der andere gewährte einen Blick zum Park hin, den wir aus der ältesten erhaltenen Aufnahme kennen. In den folgenden Jahren verfeinerte Niepce sein Verfahren. Er verwendete Silbertafeln, die er mit Joddämpfen behandelte, und erhielt damit auf diese Weise richtige Druckplatten. Über die schöpferischen Gedanken von Niepce geben nicht nur sein Briefwechsel und seine Aufzeichnungen Aufschluß, sondern auch die Geräte, die er verwendete. Hierüber berichtet Peter Pollack in seiner "Welt der Fotografie".
Im Jahre 1860 wurde auf einer ehemaligen Besitzung der Familie Niepce zahlreiches fotografisches Gerät entdeckt. Viele Geräte waren noch gut genug erhalten, um den Gang der Forschung klar erkennen zu lassen. Sie befinden sich heute im Museum von Chalon. Besonders interessant die Camera obscura, an der Niepce erstmalig eine Irisblende angebracht hat, eine Einrichtung, die Niepce erfand, die dann in Vergessenheit geriet und 50 Jahre später noch einmal erfunden werden mußte. Die Cameras von Niepce hatten übrigens bereits auswechselbare Objektive und Einrichtungen, die wir heute als "Verstellbarkeiten" (Großbild-Technik) bezeichnen.
Die Experimente von Nicephore Niepce werden von vielen als die entscheidende Leistung bei der Erfindung der Fotografie angesehen.
Kooperation mit Daguerre
Wie es zur Zusammenarbeit von Niepce und Daguerre kam, ist bekannt: Die frühen Aufnahmen von Niepce erwiesen sich als noch zu schwach zur Ätzung. Beim Optiker Chevalier in Paris bestellte Niepce deshalb ein Prisma für weitere Experimente. Der Bote, der es für ihn abholte, erzählte dem Optiker von dem Erfolg des Amateurforschers, ein von der Camera obscura ein- gefangenes Bild festzuhalten.
Chevalier besaß zu dieser Zeit einen zweiten Kunden, der sich das gleiche Ziel gesetzt hatte: Louis Jacques Mande Daguerre, gelernter Bühnenmaler und Impressario, der seit 1822 mit einem Partner in Paris sein "Diorama" betrieb. Es handelte sich dabei um eine Art Theater ohne Schauspieler: Große Panoramen, auf durch- scheinenden Stoff gemalt, bewirk- ten durch raffinierte Beleuchtungseffekte außergewöhnliche Illusionen wechselnder Naturstimmun- gen. Die Vorlagen dazu fertigte Daguerre mit einer Camera obscura. Um sich diese Arbeit zu er- sparen, suchte er nach einer Methode, das Bild der Camera obscura chemisch zu fixieren. Als Daguerre vom Sohn des Optikers Chevalier hörte, daß Niepce auf diesem Gebiet erfolgreich experimentierte, bot er ihm die Zusammenarbeit an.
Niepce wies Daguerre den richtigen Weg, als er ihm riet, doch mit versilberten Kupferplatten, die jodiert wurden, weiter zu experimentieren. Echte Fortschritte erzielte Daguerre jedoch erst nach dem Tod von Niepce im Jahre 1833. Schon 1835 stieß er auf die Entwicklung des latenten Bildes durch Quecksilberdämpfe, 1837 fand Daguerre im Kochsalz ein brauchbares Fixiermittel.
Erst am 19. August 1839 schlug aber die offizielle Geburtsstunde der Fotografie. Auf einer gemeinsamen Sitzung der französischen Akademie der schönen Künste gab man das Geheimnis der Daguerrotypie, wie die Fotografie zunächst genannt wurde, öffentlich bekannt. In kürzester Zeit wurde sie zum "Entzücken des Jahrhunderts". Niepce aber fiel der Vergessenheit anheim, die im Moment der Besinnung auf den Beginn der Fotografie und die fotografischen Pioniertaten auf dem technischen Sektor besonders auffällt.
Karl Steinorth in Color Foto 7/1983
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