Artikeltext
HISTORIE
DAS PORTRATSTUDIO IM 19. JAHRHUNDERT
Posieren für die Unsterblichkeit
Man kennt es meist nur aus dem Museum, das Porträtstudio der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts mit seinem an eine Folterkammer erinnernden Interieur. Werfen Sie einen Blick in das "gläserne" Atelier der Fotografen vergangener Tage, in denen es zum guten Ton gehörte, sich mit einem Bild die "Unsterblichkeit" zu erkaufen.
Zuhauf zieren sie heute die Schaufenster der Foto-Studios, die Aufnahmen glücklicher Paare. Einem archaischen Rollenverständnis entsprechend, spiegeln diese Bilder die Pose selig lächelnden Beschützertums beziehungsweise untertäniger Weiblichkeit wieder.
Noch heute kann man in vielen Atelieraufnahmen, die zu festlichen Anlässen gemacht worden sind, stilistische Merkmale erkennen, die in den frühen Tagen der Studio-Fotografie geprägt worden sind. Grund genug, sich einmal in den Porträt-Studios der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts umzuschauen. Denn auch, wenn sich in den zeitgenössischen Ateliers seit ihren Anfängen vieles grundlegend geändert hat, zumindest, was die einfallsarme Leblosigkeit der Posen anbelangt, scheint sich ein Rest der Tradition aus jenen Tagen in die Gegenwart herübergerettet zu haben. Aus einer Zeit in der sich der Fotograf vom Künstler in einen Handwerker verwandelt hat und der Kunde in einen mitleiderregenden Patienten.
Trotzdem muß es mit dem Beginn der Demokratisierung des Luxusartikels Fotografie zur Mitte des 19. Jahrhunderts für unsere bürgerlichen Urahnen ein er-hebendes Erlebnis gewesen sein, sich im Atelier des Fotografen durch ein Porträt die "Unsterblichkeit" erkaufen zu können. Dafür nahm man gerne die Unbequemlichkeit in Kauf, die die aus heutiger Sicht unendlich langen Belichtungszeiten mit sich brachten. In an Folterwerkzeuge erinnernde Pose-Apparaturen gezwängt, mußten die Klienten zum Teil bis zu einer halben Minute lang unbeweglich ausharren.
Das Foto-Studio im Glashaus
An den riesigen Glasfenstern konnten die Passanten das Foto-Studio damals schon von der Straße aus erkennen. Weil künstliche Lichtquellen fehlten, waren die Fotografen auf Tageslicht angewiesen. Und das lieferte ihnen das "Glashaus". Nach Norden ausgerichtet, sollte es den Kunden vor direktem Sonnenlicht schützen und eine diffuse Ausleuchtung gewährleisten.
Mit räumlichen Problemen hatten sich die Pioniere der Fotografie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht herumschlagen müssen. Bei Belichtungszeiten von mehreren Minuten benötigte man Sonnenlicht im Freien. Als die Fotografie noch in den Kinderschuhen steckte, war sie ausschließlich einer Elite vor-behalten. Erst die Erfindung des nassen Kollodiumverfahrens, mit dem der Grundstein zur Entwicklung des Rollfilms gelegt wurde, leitete eine wirkliche massenhafte Verbreitung der Fotografie ein. Der französische Fotograf Andre Alphonse Disderi schließlich erkannte die Zeichen der Zeit und ersann eine Möglichkeit, die Fotografie auch den Kreisen des mittelständischen Bürgertums zu erschließen. Seine entscheidende Errungenschaft war die Verkleinerung des Formates, die Erfindung der sogenannten "carte de visite". Die Größe dieser Aufnahmen entsprach etwa dem heutigen 6 x 9-Format. Die von Disderi entwickelte Kamera hatte vier Aufnahme-Objektive, durch die nacheinander vier Abschnitte der Kollodiumplatte belichtet wurden. Später konnten von den Glasnegativen beliebig viele Abzüge gemacht werden.
Aus heutiger Sicht hat allerdings die Verbilligung der Fotografie auch zu einer weitgehenden Verflachung der Portraitkunst beigetragen. Die "Demokratisierung des Luxus" brachte es mit sich, daß Stil und Qualität nicht mehr vom Fotokünstler bestimmt wurden, sondern vom Durchschnittsgeschmack des Kunden. Fotografie wird ein Mittel zur sozialen Prestigebefriedigung. Neben dem Hintergrund mußte dazu auch die Pose stimmen. Die dazu verwendeten Apparaturen, die dem Kunden nicht umsonst die Bezeichnung Patient einbrachten, glichen einem Operationsstuhl mit Klammern, mit denen den Fotografierten eine als schön geltende Haltung aufgenötigt wurde. Darüber hinaus sollten sie aber auch angesichts langer Belichtungszeiten ein Verwackeln verhindern.
In den Ateliers gab man sich alle Mühe, den Anforderungen der Kunden zu genügen. Jeder erfolgreiche Fotograf mußte schon fast über eine eigene Requisitenkammer verfügen, aus der die für den jeweiligen Besucher als standesgemäß erachteten Gegenstände in den Glaskasten geschleppt wurden. Während der Laborgehilfe noch in der Dunkelkammer die Kollodiumplatten silberte, mußte der Operateur unter den gestrengen Augen des Fotografen den Hintergrund aussuchen. Gemalte Innenansichten, die die Aufnahme in einer Kathedrale suggerieren sollten, gehörten ebenso zur Standardausrüstung wie Pappmache-Säulen und Ballustraden, Makartsträuße aus künstlichen Blumen und Gräsern, verstaubte Papierpflanzen, Sessel, Betbänken und die unvermeidlichen geschnitzten oder gar geflochtenen Tischchen mit gefransten Deckchen. Die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen über geraffte Türvorhänge, geschnitzte Stühle bis hin zum Grasteppich oder dem nach-modellierten Felsen. Bis zur Jahrhundertwende waren die Ateliers mit solchen Ausstellungsstücken, die alle bedeutenden Stilrichtungen dokumentierten, überladen. Offen-sichtlich sollte ein Mehr an Requisiten auch ein Mehr an Wohlstand vortäuschen. Der Annäherung der Fotografie an das Ölgemälde, das sich früher nur die Großen und Reichen leisten könnten, wurde durch die Möglichkeit der Positivretusche und der Kolorierung der Auf-nahmen der Weg geebnet. Die Fotografie hatte einen Ersatz geschaffen für die Miniatur- und Ölporträts.
Trotzdem oder gerade deshalb fanden in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts die Massen den Weg ins Fotoatelier. Wann immer es einen festlichen Anlaß gab, mußte er für die Nachwelt festgehalten werden, wer auf sich hielt, ging sogar mehrmals im Jahr zum Fotografen.
Zum standesgemäßen Ambiente gehörte schon der entsprechende Empfang in den Räumlichkeiten des Lichtbildners. Im Foyerstand die Empfangsdame bereit, von der man neben kaufmännischem Flair auch eine ebenso gepflegte wie kaufmännische Erscheinung erwartete. Zu ihrer Aufgaben gehörte es, mit Geschick die auf den großen Moment wartenden Kunden auf alle Möglichkeiten hinzuweisen, sich die Unsterblichkeit auch umfassend zu erkaufen.
Requisiten sorgen für Ambiente
Während in Dunkelkammer und Requisitenraum die letzten Vorbereitungen getroffen wurden, näherte sich der große Augenblick, wo man endlich das Atelier des Meisters betreten konnte. Zunächst mußte der Kunde in Pose gebracht werden, die Stützen, die entweder an der Sitzgelegenheit oder an einem soliden Stativ befestigt waren, wurden in Stellung gebracht. Der Operateur machte sich daran, dem prüfenden Blick des Meisters ausgesetzt, die Oberlichtgardinen über Drahtzüge oder mit einem Bambusstab so zu verschieben, daß auch die Beleuchtung stimmte. Dann hieß es stillhalten. Und weil dies gerade für die lieben Kleinen gar nicht so einfach war und trotz des immer wiederkehrenden Spruches vom Vögelein des öfteren eine Platte durch den ungezügelten Bewegungsdrang verdorben wurde, mußten die Eltern für die Ablichtung ihres Sprößlings tiefer in die Tasche greifen. Aber auch für einen Erwachsenen mag es nicht unbedingt einfach gewesen sein, in Bewegungslosigkeit zu erstarren, bis der Fotograf das erlösende Zeichen gab. Obwohl man heute angesichts geschätzter Blendenwerte und des dehnbaren Begriffes der Helligkeit im Atelier auf Schätzungen angewiesen ist, geht man davon aus, daß für das nasse Kollodiumverfahren 1851 eine Belichtungszeit im hellen Atelier bei Blende acht notwendig gewesen sein dürfte, die zwischen vier und zwölf Sekunden gelegen hat, bei dem um 1880 entwickelten Bromsilbergelatine-Verfahren verkürzte sich unter gleichen Bedingungen die Zeit auf vier Sekunden, um die Jahrhundertwende sogar auf eine Dreiviertel Sekunde.
Als Wolcott und Johnson Anfang März 1840 in New York das erste Fotoatelier der Welt eröffneten, dürften sie ihren Patienten trotz eines ausgeklügelten Beleuchtungssystemes, bei dem mittels zweier verstellbarer Spiegel vor dem Fenster durch ein mit Kupfersulfatlösung gefülltes Glasgefäß das Sonnenlicht auf das Modell reflektiert wurde, etwas mehr Geduld und Stillhaltevermögen abverlangt haben. In den Ateliers übertraf man sich in dem Bestreben, in immer kürzerer Zeit immer mehr Aufnahmen in den Kasten zu bekommen. Auch in dieser Entwicklung lag eine Ursache dafür, daß kaum mehr ein Fotograf versuchte, Charakteristisches herauszuarbeiten und die Posen schließlich zum Klischee erstarrten.
Klischee-Bilder vom Fließband
Das Fotoatelier sollte zur Bühne mit zahlreichen Requisiten und gemalten Hintergründen werden. Je schlichter das Milieu der Kundschaft war desto größer wurde das Verlangen nach einer glamourhaft-pompösen äußeren Aufmachung. Und schließlich war auch der Umsatz in der Regel proportional zu dem Prunk, den das Studio seinen Interessenten zu bieten hatte. Als die beliebten Carte-devisite-Bilder langsam ihren Reiz zu verlieren begannen, wurde 1866 in England das sogenannte Cabinett-Porträt eingeführt und gewann mehr und mehr an Popularität. In der Folge ließ man sich also im Format 10 x 14 Zentimeter abbilden. Noch heute kann man auch aufgrund der typischen stilistischen Merkmale, die jedes Jahrzehnt charakterisierte, erkennen, wann unsere Urahnen wahrscheinlich den Fotografen aufgesucht haben. In den sechziger Jahren legte man beispielsweise besonderen Wert auf Balustraden, Säulen und Vorhänge, die Siebziger ließen in den Studios ländliche Holzbrücken und Zäune dominieren. Hängematten und Eisenbahnabteile erste Klasse prägten das Interieur des Ateliers in den achtziger Jahren, während im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts offensichtlich Palmen, Papageien und Fahrräder als standesgemäß angesehen wurden. Das neue Jahrhundert schließlich machte das Auto zum begehrten Statussymbol.
Neben diesen Requisiten, die der Kunde verlangte, benötigte der Fotograf zur Zeit des nassen Kollodiumverfahrens eine ganze Reihe von Utensilien für seine eigentliche Arbeit. Neben dem Objektiv mit Blenden und der Kamera samt Visierscheiben und Kassetten, einem Tuch zum Einstellen sowie dem Stativ, benötigte unser stolzer Atelierbesitzer einen Kasten mit den gereinigten Platten, Plattenhalter, Staubpinsel, Küvetten, kleine Gläser, Wassergefäße, Trichter, Filtrierpapier, Kollodium, Silberbad, Entwickler, Pyrogallussäurelösung, Silberlösung und Fixierbad. Einigermaßen unangenehm und nachteilig war für unseren Fotografen auch die Tatsache, daß die Platten unmittelbar vor dem Erscheinen des Kunden präpariert und in nassem Zustand belichtet werden mußten. Sobald das Kollodium, das sich viele Fotografen zur Sicherheit selber herstellten, trocknete, kristallisierte das Silber an der Oberfläche und die Schicht wurde sehr viel unempfindlicher. Außerdem schlossen sich beim Trocknen die Poren, wodurch der Entwickler nicht mehr in die Schicht eindringen konnte. Nach der Entwicklung, zu der Pyrogallussäure verwendet wurde, wurde der Kollodiumfilm mit einem flachen Glasstab an den Ecken der Glasplatte abgelöst und von der Platte getrennt, indem man ihn auf den Glasstab aufrollte. Der abgelöste Film kam dann in das Wasser- beziehungsweise Stoppbad, anschließend in ein Fixierbad aus Natriumhyposulfid und wurde daraufhin noch gründlich schlußgewässert.
Porträtbilder dieser Zeit sagten nichts über den auf ihnen Dargestellten aus, viel jedoch über die Zeit, in der er lebte. Es war eine Zeit krasser gesellschaftlicher Unterschiede in der sich die Fotografie geradezu als Mittel anbot, sie wenigstens einen Moment lang optisch zu überbrücken. Fotografie als Mittel zur Überbrückung sozialen Gefälles. Und dazu gehörte es eben, würdevoll zu posieren, auch wenn wir heute darüber lächeln. Auch wenn die Glaskästen, die das wachsende, bedeutender und selbstbewußter werdende mittlere und kleine Bürgertum sich als Ort der Selbstdarstellung und Repräsentation eroberten, aus dem Straßenbild verschwunden sind, die Tradition dieser Häuser lebt in Ansätzen noch weiter. Denn auch heute verfügen noch lange nicht alle Fotografen über die seltene Gabe der Lady Cameron. Noch immer mangelt der Technik zu oft das Künstlerische.
Irmgard Kern in Color Foto 11/1985
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