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PHOTOGRAPHICA aktuell
Ein Relikt der zwanziger Jahre
Balgenkamera in Aktion
Wer kennt sie nicht, die alten Kameras mit lederbezogenem Holzgehäuse, Balgen und vielen Hebelchen. COLOR FOTO-Leser Volker Horstmann wollte wissen, was ein solches Gerät zu leisten imstande ist. Er wurde nicht enttäuscht.
Du willst doch nicht etwa damit fotografieren?" So lautete die Reaktion auf eine Äußerung meinerseits, die Experimentierfreude verriet. Nun - eine Kamera, wie Sie sie auf dieser Seite sehen, gehört in die Vitrine des Sammlers, und selbst der schenkt ihr nicht unbedingt Aufmerksamkeit. Dazu ist sie zu gewöhnlich. Aber ich muß gestehen: sie gefällt mir. Ich mag ihr Äußeres - schon den schlichten, lederbezogenen Holzkasten und mehr noch das Innenleben, ein präzises Arrangement von Stahl und Nickel, von Glas, Lack und Leder. Zusammengeklappt ist sie so kompakt, daß sie kaum mehr Platz beansprucht als eine Kleinbild-Spiegelreflexkamera, obwohl das Filmformat mehr als zehnmal so groß ist. Ich ersteigerte sie vor einigen Jahren auf einer Auktion. Mit 130 Mark (plus Auktionskosten) war ich der beharrlichste Bieter. Ein Schmuckstück, gut erhalten. Der Balgen ist dicht, Verschluß und Selbstauslöser laufen sauber ab, die Linsen sind unverkratzt.
Da steht sie nun in der Vitrine, eine typische Kamera der zwanziger Jahre. Das gute Stück mit namenlosem Gehäuse wurde seinerzeit von Deckel und Stein-heil vertrieben. Format 9x12 Zentimeter, für Platten und Planfilm, später mit Filmpack benutzt. Das Objektiv, ein Steinheil Doppelanastigmat „Unofocal”, ist ein Vierlinser - leicht zu untersuchen, da sich { der Vorder- und der Hinterlinsensatz ohne Zuhilfenahme von Werkzeug herausschrauben lassen.
Ein Doppelanastigmat sollte eigentlich sechs Linsen aufweisen, aber ein Lexikon aus jener Zeit lehrt, man habe bei diesem Typ in jedem der beiden Linsensätze eine Linse durch eine „Luftlinse” ersetzt. Für den heutigen Liebhaber historischer Kameras hat dies immerhin den Vorteil, daß es keine Schäden durch Linsenkitt gibt, da alle Elemente einzeln stehen.
Die Lichtstärke - immerhin 1:4,5 - ist beachtenswert, denn sie muß im Verhältnis zum Filmformat gesehen werden. Die heutigen Großformat-Objektive sind meistens weniger lichtstark (1:5,6), und die Freunde von Zoomobjektiven und Kompaktkameras sind ebenfalls kaum Besseres gewohnt.
Mechanisch geregelter Compur-Verschluß
Der Verschluß verrät am ehesten die Bauzeit der Kamera: Es ist ein Compur-Zentralverschluß der Firma Deckel mit mechanischem Regelwerk (1/200 bis eine Sekunde). Diese Technik setzte sich in den zwanziger Jahren weitgehend durch. Sein Vorgänger, der Compound-Verschluß der selben Firma, regelte die Langzeiten pneumatisch, indem ein winziger Kolben in einem von außen sichtbaren Zylinder Luft verdrängte. Das Nachfolgemodell, das überwiegend in den dreißiger Jahren gebaut wurde, ist am großen Einstellring zu erkennen. Unsere Kamera hat, wie gesagt, das mechanische Werk mit dem kleinen Einstellrad. Was wir von neueren Kameras als leises Surren kennen, knattert hier allerdings lautstark, ist dabei aber vibrationsfrei.
Für extreme Nahaufnahmen hat die Kamera einen doppelten Balgenauszug. An Suchern besteht wahrlich kein Mangel. Es steht der „Brillant-Sucher”, eine Art Spiegelreflexsucher, zur Verfügung, ferner der Rahmensucher und als dritte Möglichkeit
die Mattscheibe - zweifellos die angemessenste Art, mit dieser Kamera zu fotografieren. Allerdings ist Geduld erforderlich, denn im Gegensatz zu modernen Großbildkameras ist das Herausziehen der Mattscheibe und das Einschieben der Filmkassette schwierig.
Dabei kommt noch erschwerend hinzu, daß die Kamera trotz ihrer stabilen Bauweise sehr leicht ist und man ständig das Gefühl hat, man würde unbeabsichtigt etwas verstellen.
Objektiv verstellbar für Perspektivkorrekturen
Wer an Kleinbildkameras gewöhnt ist, wird freudig überrascht sein über das große, brillante Mattscheibenbild. Für Aufnahmen aus der Hand ist eine große Entfernungsskala am Boden vorhanden.
Eine erfreuliche Besonderheit ist die Verstellbarkeit des Objektivs für die Perspektivkorrektur. Es läßt sich seitlich und in der Höhe verschieben. Wer damit umgeht, muß aber die Erfahrung machen, daß es optisch der Verstellung nicht gewachsen ist - Randunschärfe ist die Folge.
Da steht sie nun also, diese wunderschön nostalgisch aus-sehende Kamera. Aber es reizt mich, doch auch einmal damit zu fotografieren. Ich besorge ich mir Dia-Planfilm. Jemand warnt mich - die Kamera wäre vor der Farbfilm-Zeit gebaut, folglich würde dieses Objektiv nicht farbkorrigiert sein.
Das ist natürlich Unsinn, denn auch für Schwarzweißbilder ist die Farbkorrektur wichtig, sonst werden sie unscharf. Auch dieses Objektiv ist schon achromatisch korrigiert!
Die Meinerdinger Kirche vor meiner Tür ist das nächstgelegene und zugleich ein sehr schönes Motiv. Ich entscheide mich dafür, zumal ich das Gebäude nun endlich einmal mit der nötigen Perspektivkorrektur aufnehmen kann. Stativ, Belichtungsmesser, Planfilm in der Kassette - das ist alles, was ich für die Aufnahme brauche. Die Sonne steht günstig.
Ich blende stark ab, um Ungenauigkeiten zwischen Mattscheibe und Film auszugleichen und um das Objektiv nicht zu überfordern (Blende 12,5). Die Aufnahmen brauchen Zeit. Wer gern großzügig mit Filmmaterial umgeht, sollte hier umlernen, denn ein Großformat-Dia kostet inklusive Entwicklung rund acht Mark. Der Apparat erzieht den Fotografen zur Bedächtigkeit. Er ist eben etwas ganz anderes als die modernen „Filmvernichtungsmaschinen”.
Das Ergebnis kann sich sehenlassen - es übertrifft alle meine Erwartungen. Die Dias sind brillant. Die Helligkeitsverteilung ist gut. Zentrierung und Randschärfe des Objektivs entsprechen nicht ganz den heutigen Ansprüchen. Durch die Verschiebung des Objektivs nach oben zeigt sich oben im Bild schwacher Kontrast. Der Gesamteindruck ist jedoch erstaunlich gut; Vergrößerungen bis zum Zehnfachen sind durchaus machbar.
Die Aufnahmen von der Meinerdinger Kirche dienten später als Vorlage für einen Bildband - und besser hätte ich sie wohl mit keiner meiner anderen Kameras machen können. Sie ist eben doch etwas Besonderes, so eine ganz normale Kamera aus den zwanziger Jahren.
Volker Horstmann in Color Foto 7/1993
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