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PHOTOGRAPHICA AKTUELL
Geheimkameras
Immer schön unauffällig
Andere Menschen heimlich zu fotografieren, hat offenbar schon immer einen besonderen Reiz ausgeübt. Ob staatlicher Geheimdienst oder privater Voyeurismus - Verstecke für die unauffälligen Mini-Kameras finden sich viele.
Entrüstet legt der seriöse ältere Geschäftsmann seine Zeitung beiseite. Kopfschüttelnd überlegt er, wie das Foto, das ihn inmitten von Geschäftsfreunden bei einem geheimen Treffen zeigt, zustande kam. Dabei hatte sein Sicherheitspersonal doch alle Teilnehmer nach Waffen und Kameras untersucht.. . So oder ähnlich könnte sich eine Geschichte abgespielt haben, bei der eine Geheimkamera zum Einsatz kam. Geheimkameras haben etwas Faszinierendes, wurden sie doch allein zu dem Zweck konstruiert, Menschen unbemerkt fotografieren zu können. Aus diesem Grunde waren es meistens Diplomaten, Agenten, Detektive und staatliche Organe, die Interesse an derartigen Kameras hatten. Nicht erst seit der Erfindung der legendären Minox, die 1937 auf den Markt kam und die bis heute als die Spionage-Kamera schlechthin gilt, spricht man von Geheimkameras. Bereits vor rund hundertzwanzig Jahren kamen die sogenannten "Detective Cameras" auf den Markt, die ein fast unbemerktes Fotografieren ermöglichen sollten.
Und doch findet man in letzter Zeit auf Börsen und Auktionen wieder Geheimkameras, die diesen Namen tatsächlich verdienen. Ein Spazierstock mit einer im Griff eingebauten Kamera, eine Brosche mit einem als Stein getarnten Objektiv - es gibt immer wieder neue Überraschungen. Die Sammlerwelt reagierte auf diese kleinen Kunstwerke etwas verunsichert; niemand wußte so recht, woher sie kamen und wann sie entstanden.
Ein Auktionator datierte sie vorsichtig mit "wohl neuzeitlich". Zwischenzeitlich konnte das Geheimnis um die Geheimkameras aber etwas gelüftet werden. Vor einiger Zeit kam Richard Wiese, ein deutschstämmiger Pole aus Danzig, in die Bundesrepublik. Schon in Danzig sammelte Richard Wiese, zusammen mit seinem Freund Marek Mazur, Kameras und Literatur zur Fotografie. Eines Tages fand Wiese ein altes Buch, in dem eine Kleinstkamera abgebildet war, von der er zunächst dachte, sie wäre ein Spielzeug. Er beschäftigte sich intensiv mit der Materie und kam unter großen Schwierigkeiten im damals noch kommunistischen Polen an weitere Literatur über Geheimkameras. Wiese und Mazur beschlossen, sich auch einmal im Bau einer Geheimkamera zu versuchen.
Es entstand eine Kamera, die im Griff eines Spazierstocks eingebaut war. Ironie des Schicksals: Keiner der beiden wußte, daß es eine fast gleich aussehende Spazierstock-Kamera schon vor über hundert Jahren gegeben hatte.
Immer mehr Geheimkameras folgten. Kein Gehäuse war zu klein, und an Ideen mangelte es den beiden nicht. Ein altes Familienerbstück, eine Brosche mit fünf Steinen, war Vorlage für die nächste Kamera: In feiner Goldschmiedearbeit wurden die Bronzebleche, die die Blüte darstellen, gehämmert. Der große Stein im Blütenkelch wurde zum Objektiv. Einer der beiden kleinen Steine ist der Spannkopf, der andere dient der Blendenwahl. Ausgelöst wird über einen kurzen Schwenk des Stiels. Nach und nach entstanden weitere Geheimkameras, die oftmals kleine Kunstwerke darstellen - die Kamera als Füllfederhalter getarnt oder in den Kopf einer teuren Pfeife eingebaut, ein Siegelring mit integrierter Kamera, eine Feuerzeugkamera mit Wechselobjektiven. Eines haben alle Objekte aus der Werkstatt Wiese/Mazur gemeinsam: Die Gebrauchsfähigkeit des Gegenstands wird durch den Kameraeinbau nicht beeinträchtigt.
So unterschiedlich die einzelnen Kameragehäuse sind, so vielfältig ist auch die technische Ausstattung bis hin zu den Filmformaten. Das "Feuerzeug" etwa erinnert schon an eine moderne Systemkamera. Drei Wechsel-objektive mit den Brennweiten 6,5 sowie 10 und 25 Millimeter, Verschlußzeiten V30 bis 1/I000 Sekunde und sieben Aufnahmen im Format 4x7 Millimeter auf einer Filmscheibe mit 23,3 Millimetern Durchmesser hat die Kamera im Feuerzeug zu bieten.
Aber auch der "Füllfederhalter" hat es in sich. Der komplette Kamera-Mechanismus ist in die Kappe eingebaut, der Füller als solcher bleibt voll funktionsfähig. Als Bildträger dient eine Scheibe von 10 Millimetern Durchmesser, auf die sechs Aufnahmen passen. Das Objektiv besitzt eine feste Blende, der Verschluß weist einen Zeitenbereich von 1/30 bis 1/500 Sekunde auf.
Die Objektive, deren Brennweite auf die vorgegebene Bildgröße abgestimmt ist, stammen aus Schmalfilmkameras. Hier ist man jedoch bereits an die Grenzen des Machbaren gestoßen, da manche Objektive aufgrund ihrer Größe zu voluminös für die Miniaturkameras sind. Deshalb läßt Wiese spezielle Linsen und Linsengruppen für seine Kameras in einem optischen Werk in Polen nach Maß fertigen. Natürlich würde man sich schwer tun, wollte man für diese Kameras Filme beim Fotohändler um die Ecke kaufen. Deshalb wird jede Kamera mit einer Stanze ausgeliefert, mit der man sich die passende Filmscheibe aus handelsüblichem Material (zum Beispiel Kleinbild- oder Planfilm) zuschneiden kann. Daß hierbei nur niedrigempfindliches (und feinkörniges) Material verwendet werden sollte, versteht sich von selbst. Bedenkt man, daß das Filmformat des "Feuerzeugs" nicht einmal einem Drittel, das des "Federhalters" nur knapp einem Sechstel des Minox-Formats (8x11 Millimeter) entspricht, ist es einleuchtend, daß die Qualität der Bilder nicht mit der von Kleinbildaufnahmen zu vergleichen ist. Dennoch lassen sich bei den Abzügen bei gewissenhafter (Selbst)verarbeitung des Filmmaterials erstaunliche Ergebnisse erzielen.
Inzwischen bauen Wiese und Mazur nicht nur ihre Standardprodukte, sondern wagen sich auch an Sonderwünsche heran. Ein Schweizer Sammler zum Beispiel gab den Auftrag zu einer Taschenuhr-Kamera. Vorgabe war, daß die Uhr weiterhin funktionieren mußte. So wurde in künstlerischer Handarbeit ein Gehäuse angefertigt und das Werk einer alten Schweizer Uhr eingebaut. Rund um das Werk wurde auf Basis einer Minox-Filmkassette die eigentliche Kamera konstruiert. Kamera wie auch Taschenuhr sind, so Wiese und Mazur, voll funktionsfähig.
Axel Bretzler in Color Foto 12/1993
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