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TEST&TECHNIK PRAXISBERICHT
Sinn und Unsinn moderner Kamerafunktionen
Feature-itis...
Technischer Fortschritt im Kamerabau wird gerne durch neue Funktionen und eine üppige Ausstattung dokumentiert. Das führt dazu, daß sich in modernen Kameras neben sinnvollen Ausstattungsmerkmalen immer mehr Placebofunktionen finden. COLOR FOTO sagt Ihnen, welche Ausstattungsmerkmale für welche Anwendergruppen wirklich sinnvoll sind.
Kamerafunktionen und Ausstattungsmerkmale, meist mit dem schönen neuhochdeutschen Wort Features um- schrieben, dienen den Marketingstrategen oft als wichtigstes Verkaufsargument. Eine Kamera, die in der gleichen Preisklasse eine üppigere Ausstattung als die Konkurrenzmodelle bietet, läßt sich nun mal besser verkaufen. Denn es ist für breite Käuferschichten beruhigend zu wissen, daß die frisch erworbene Kamera mehr Ausstattungsmerkmale besitzt, als man in einem Fotografenleben je benutzen wird. Es mag sein, daß es eine Frage der Selbstdisziplin des Fotografen ist, die überflüssigen Ausstattungsmerkmale einer Kamera zu benutzen. Dennoch können sich die Kamerakonstrukteure nicht mit dem Hinweis herausreden, man müsse die vielen Funktionen nicht unbedingt einsetzen. Um das an einem einfachen Beispiel zu zeigen: Eine Kamera ist mit 20 Funktionen ausgestattet, von denen aber lediglich fünf im Fotoalltag tatsächlich benötigt werden. Weil man aber nicht 20 Tasten für die Bedienung der einzelnen Funktionen einbauen kann, werden rein rechnerisch fünf Tasten vierfach belegt. Dadurch sind die fünf tatsächlich benötigten Funktionen auf verschiedenen Schaltebenen verstreut und nur durch mehr oder weniger gut gelöste Schaltvorgänge zu erreichen.
Es gibt Features, die das Fotografieren erleichtern, den Bedienungskomfort der Kamera erhöhen und die Anwendungsmöglichkeiten erweitern. Es gibt aber auch Features, die keinem anderen Zweck als sich selbst dienen und als Placebofunktionen in den technischen Daten die Buchhalter unter den Fotografen erfreuen. Angesichts der zahlreichen Funktionen und Ausstattungsmerkmale, die moderne Spiegelreflexkameras aufweisen, fällt es nicht nur Fotoanfängern, sondern auch gestandenen Fotografen mitunter schwer, sich im Dickicht der Features zurechtzufinden.
Der vorliegende Beitrag versteht sich als Leitfaden bei der Beurteilung der Kamerafunktionen. In den Tabellen sind die einzelnen Funktionen und Ausstattungsmerkmale in Sachgruppen zusammengefaßt und zielgruppenorientiert bewertet. Dadurch ist es möglich, die Eignung der einzelnen Features für die jeweilige Zielgruppe, vom Fotoanfänger bis zum Profifotografen, auf einen Blick zu erkennen. Auf jedes einzelne Feature im Textteil einzugehen, würde den Rahmen des Beitrags sprengen. Daher werden wir nur auf die wichtigsten Funktionen und auf Streitfragen eingehen.
Belichtungsprogramme
Die Belichtungsprogramme sind wohl die wichtigsten Funktionen einer Kamera, wobei uns die "klassische" Bezeichnung "Belichtungsprogramme" nicht irritieren darf. In der Grundeinstellung sind die Programm-, Blenden- und die Zeitautomatik, Programmshift und sogar die manuelle Belichtungseinstellung üblicherweise mit einer bestimmten Belichtungsmeßmethode, AF-Betriebsart und Filmtransportart kombiniert. Die Programmautomatik (P) ist die Grundeinstellung der meisten Spiegelreflexkameras. Wenn schnelle Schußbereitschaft oder unbeschwertes Fotografieren gewünscht wird, dann ist die Programmautomatik die geeignete Betriebsart. Verschlußzeit und Blende werden vom Kameracomputer automatisch gesteuert. Falls der Fotograf für die Umsetzung seiner eigenen Bildidee aber eine andere Blende oder eine andere Verschlußzeit wünscht, kann er jederzeit durch das sogenannte Shiften die Zeit-Blenden-Kombination bei gleichbleibendem Belichtungswert nach Wunsch verändern - vorausgesetzt, die Kamera verfügt über ein Programmshift. Um das an einem Beispiel zu zeigen: Nehmen wir an, die Kamera mißt 1/125 Sekunde bei Blende B. Wenn wir bei einem Porträt aber eine größere Blendenöffnung für eine geringere Schärfentiefe wünschen, können wir Blende 5,6 und 1/250 Sekunde einstellen. Wenn für einen Mitzieheffekt 1/30 Sekunde erforderlich ist, dann müssen wir 1/30 Sekunde und Blende 16 einstellen. Die Intensität der Belichtung bleibt in allen drei Beispielen unverändert, so daß die drei Aufnahmen die gleiche Helligkeit aufweisen. Das Shiften kommt gewissermaßen einer Zeitautomatik beziehungsweise Blendenautomatik gleich, so daß in den meisten Situationen das Umschalten in diese Automatikfunktionen entfallen kann. Sinnvoll ist auch eine Programm-Rückstelltaste, scherzhaft auch als "Panik-Taste" bezeichnet, mit der man per Tastendruck grundsätzlich aus jeder anderen Funktion die Programmautomatik wieder einschalten beziehungsweise zu den Grundeinstellungen der Kamera zurückkehren kann.
In der Zeitautomatik mit Blendenvorwahl (A oder Av) wird die gewünschte Blende (im Idealfall in halben Stufen) vorgewählt und die Kamera steuert automatisch und stufenlos eine passende Verschlußzeit. Die Zeitautomatik mit Blendenvorwahl ermöglicht die gezielte Dosierung der Schärfentiefe und eignet sich sehr gut für Porträt-, Landschafts- und Architekturaufnahmen. In der Blendenautomatik mit Zeitvorwahl (T, Tv oder S) wird die gewünschte Verschlußzeit (im Idealfall in halben Stufen) ein-gestellt und die Kamera steuert automatisch in Abhängigkeit von den Lichtverhältnissen stufenlos die entsprechende Blende.
Die Blendenautomatik eignet sich sehr gut für Aufnahmen von bewegten oder sich bewegenden Objekten. Sport-, Action- und Schnappschußfotografie sind ideale Einsatzgebiete für die Blendenautomatik, in der je nach vorgewählter Verschlußzeit die Bewegungsabläufe "eingefroren" oder verwischt wiedergegeben werden können. Die Blendenautomatik kann auch für verwacklungsfreie Teleaufnahmen eingesetzt werden. Bei manueller Belichtungseinstellung (M) werden sowohl Blende als auch Verschlußzeit (im Idealfall in halben Stufen) manuell eingestellt, wobei der Belichtungsabgleich im Sucher angezeigt wird.
Die manuelle Belichtungseinstellung ist ideal für die bewußte Lösung von schwierigen Aufnahmesituationen, wie Gegenlichtaufnahmen, gezielte Über- oder Unterbelichtungen, genau reproduzierbare Belichtungsreihen, experimentelle Fotografie, Aufnahmen mit sehr dunklen Filtern oder Trickvorsätzen, Infrarotfotografie, Mehrfachbelichtungen oder auch Blitzbelichtungsreihen.
Die Motivprogramme sind Belichtungsautomatiken, die mit einer für spezielle Aufnahmegebiete abgestimmten Software arbeiten. Im Porträtprogramm wird beispielsweise eine möglichst große Blendenöffnung gesteuert, um das scharf abgebildete Gesicht vor dem unscharfen Hintergrund plastisch zu trennen. Im Landschaftsprogramm wird eine kleine Blendenöffnung gesteuert, um sowohl den Vordergrund als auch den Hintergrund scharf abzubilden. Im Sportprogramm wird eine möglichst kurze Verschlußzeit gesteuert, um die Objektbewegung "einzufrieren", das heißt scharf abzubilden. Je nach Kamera und Zielgruppe können zwischen vier und 15 Motivprogramme einzeln gewählt werden. Mit der Schärfentiefenautomatik ist es beispielsweise möglich, durch zwei Autofokus-Messungen die Ausdehnung der Schärfentiefe zu bestimmen (bei der Canon EOS 500 wird alles scharf abgebildet, was sich innerhalb der drei AF-Meßfelder befindet).
Belichtungsmessung
Wenn man den Prospekttextern glauben soll, muß man sich bei High-Tech-Kameras keine Gedanken mehr um die Belichtungsmessung machen, denn computergesteuerte Meßsysteme sollen, so die Werbeaussagen, sogar ausgeprägte Gegenlichtsituationen erkennen und die Belichtung automatisch korrigieren. Daß dem nicht immer so ist, haben wir unter anderem in der letzten COLOR FOTO-Ausgabe festgestellt. Bei Motiven mit durchschnittlichen Kontrasten und relativ gleichmäßiger Verteilung der hellen und dunklen Flächen kann man sich getrost auf die Belichtungsmessung der Kamera ver- lassen. Wer auch bei schwierigen Lichtverhältnissen korrekt belichtete Diaaufnahmen haben möchte, muß die Arbeitsweise eines Belichtungsmessers sowie die Vor- und Nachteile der einzelnen Meßmethoden der TTL- Belichtungsmessung kennen.
Sehr verbreitet ist die Mehrfeldmessung, die - je nach Firmenjargon - auch Matrix-, Wabenfeld- oder Honeycomb-Messung genannt wird. Durch die Anzahl, Form, Größe und Anordnung der einzelnen Meßsegmente unterscheiden sich die Mehrfeldmessungen verschiedener Kameras. Das Funktionsprinzip ist jedoch weitgehend identisch: Die Meßzelle wird in mehrere Meßsegmente aufgeteilt (zwischen fünf und 16 Meßsegmente, je nach Kamera) und der Kameracomputer analysiert die Meßergebnisse in den einzelnen Meßsegmenten, wobei bei Spitzenmodellen auch Daten aus der Entfernungsmessung bei der Ermittlung der korrekten Belichtung berücksichtigt werden. Bei Motiven mit normalem Kontrastumfang, aber auch bei schwachem Gegenlicht oder leicht erhöhtem Motivkontrast arbeitet die Mehrfeldmessung recht zuverlässig. Bei hohen Motivkontrasten und starkem Gegenlicht kommt es jedoch oft zu Fehlmessungen. Zwar werden Gegenlichtsituationen, je nach flächenmäßiger Kontrastaufteilung des Motivs, mehr oder weniger korrigiert, doch über das Ausmaß der Korrektur wird der Fotograf nicht informiert. Bei der mittenbetonten Integralmessung wird normalerweise die Belichtung im gesamten Bildfeld gemessen, wobei eine mehr oder weniger große Fläche in der Bildmitte stärker berücksichtigt wird.
Die mittenbetonte Integralmessung ist gut geeignet für Motive mit normalem Kontrastumfang, keinen großen Farbgegensätzen und gleichmäßiger Verteilung der hellen und dunklen Flächen. Die Integralmessung arbeitet nicht so differenziert wie die Mehrfeldmessung, dafür kann man aber mit etwas Erfahrung ihre Wirkung genauer beurteilen. Daher kann man bei der Belichtung vom gemessenen Wert bewußt und kontrolliert abweichen, und sogar gezielte Über- oder Unterbelichtungen sind problemlos möglich. Die Selektiv- beziehungsweise die Spotmessung ist sehr wichtig für die anspruchsvolle Fotografie, weil ein gezieltes Anmessen bildwichtiger Details möglich ist. Bei der Messung wird lediglich das in einem kleinen, zentral angeordneten Meßkreis einfallende Licht gemessen. Die Meßfläche entspricht üblicherweise etwa drei Prozent der Bildfläche bei der Spotmessung, während bei der Selektivmessung der ebenfalls zentral angeordnete Meßkreis einen Durchmesser von etwa sieben bis zwölf Millimetern (je nach Kamera) hat und damit zwischen fünf und zehn Prozent der Bildfläche erfaßt.
Die Spotmessung ermöglicht ein gezieltes Anmessen bildwichtiger Details und eignet sich daher sehr gut für Motive mit hohem Kontrastumfang, Gegenlichtsituationen, Objekte vor sehr hellem oder sehr dunklem Hintergrund und für andere schwierige Lichtsituationen.
Durch Messung der hellsten und der dunkelsten Motivpartie kann auch der Kontrastumfang des Motivs bestimmt werden. Die Meßwertspeicherung ist erforderlich, wenn mit einem anderen Wert als dem im gewählten Bildausschnitt (beziehungsweise in der Bildmitte) gemessenen ausgelöst werden soll.
Durch die manuelle Belichtungskorrektur kann der anspruchsvolle Fotograf den Bedienungskomfort der Belichtungsautomatik nutzen und trotzdem in die eingreifen und eine knappere oder eine reichlichere Belichtung vorwählen.
Scharfeinstellung
Auch gestochen scharfe Bilder von Aufnahmeobjekten in einer schnellen Bewegung sind - zumindest nach den Werbeaussagen der Kamerahersteller - dank der vorausbestimmenden oder voraus-berechnenden automatischen Scharfeinstellung, auch Prädiktions-Autofokus genannt, kein Problem. Der Kameracomputer berechnet aus den Daten der kontinuierlichen Autofokus-Messungen die voraussichtliche Position des bewegten Objektes zum Zeitpunkt der Belichtung. Damit wird die Objektbewegung in der geringen zeitlichen Verzögerung zwischen dem Druck auf dem Auslöser und der tatsächlichen Belichtung berücksichtigt. Die meisten Kameras können nur Objekte "verfolgen", die sich mit relativ konstanter Geschwindigkeit auf die Kamera zu oder von ihr weg bewegen. Bei Spitzenmodellen spricht der Prädiktions-Autofokus auf Bewegungen in allen Richtungen an, und zwar unabhängig da- von, ob das Objekt sich mit konstanter Geschwindigkeit bewegt, beschleunigt oder ab- bremst.
Einige Kameras schalten in bestimmten Programmen automatisch von der Schärfepriorität auf Auslösepriorität um, sobald sich das Objekt bewegt. Bei großen Aufnahmeentfernungen haben die meisten AF-SLR-Kameras keine Schwierigkeiten, auf bewegte Objekte zu fokussieren, deren Bewegungsrichtung nicht allzusehr von der Objektivachse abweicht. Bei kürzeren Aufnahmeentfernungen und bei größeren Abweichungen der Bewegungsrichtung von der Objektivachse können aber mehr oder weniger große Probleme bei der Fokussierung auftreten. Natürlich kann man schnelle Bewegungsabläufe aber auch ohne Autofokus "einfrieren", das heißt scharf abbilden. In Abhängigkeit von der Geschwindigkeit und Bewegungsrichtung wird dann dazu eine entsprechend kurze Verschlußzeit eingestellt.
Sucher
Viele Fotografen halten eine hundertprozentige Übereinstimmung des Sucherbildes mit dem Aufnahmeformat für eines der Merkmale einer Profikamera. Gegen den Wunsch, alles, was auf das spätere Bild kommt, auch im Sucher zu sehen, gibt es natürlich nichts einzuwenden. Allerdings sollte man dabei folgendes bedenken: Eine hundertprozentige Sucheranzeige ist sinnvoll, wenn man Papierabzüge selbst herstellt. Bei Laborarbeiten muß man (oft sogar in einem Fachlabor) mit einem Formatbeschnitt rechnen. Bei der Rahmung der Dias wird ebenfalls ein Teil des Aufnahmeformates abgedeckt. Außerdem paßt das Seitenverhältnis des Aufnahmeformats nicht zu jedem Motiv. Und bei Veröffentlichungen ist es die große Ausnahme, wenn das volle Aufnahmeformat gedruckt wird. Üblicherweise wird das Dia oder der Papierabzug beschnitten, um sie an das jeweilige Layout anzupassen. In der Tagespresse wird oft die Textlänge durch Beschnitt der Bilder aus-geglichen. Darüber hinaus kann es vorkommen, daß die Befestigung auf der Scannertrommel ihre Spuren am Bildrand hinterläßt. Erfahrene Fotografen wissen auch, daß es sinnvoll ist, Bilder mit "Fleisch" zu liefern, die in der Grafik beschnitten werden können. Daher ist ein Sucherbild, das 92 bis 94 Prozent des Aufnahmeformates wiedergibt, was der Projektionsfläche eines gerahmten Dias entspricht, wohl die praxisgerechtere Lösung.
Artur Landt in Color Foto 8/1994
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