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KAMERAS TEST
Hasselblad H1
Pikante Mischung
Hasselblad rückt vom 6x6-Format ab und bringt eine SLR-Kamera im 4,5x6-Format mit Autofokus. Die Objektive kommen von Fuji, der AF-Sensor von Minolta: eine pikante Mischung von hohem Praxiswert.
Die neue Hasselblad Hl, zur photokina vorgestellt, ist kein Fall für Puristen: Der schwedische Hersteller hat sich vom lange propagierten Format 6x6 cm verabschiedet. Mit einer Autofokuskamera für das Format 4,5x6 cm begibt man sich auf ein Terrain, das von Contax, Mamiya und Pentax gut besetzt ist. Die Objektive kommen jetzt nicht mehr von Zeiss, sondern von Fujifilm - was allerdings kein Nachteil sein muss, weil auch Fujinon-Objektive seit jeher einen guten Ruf haben. Und weshalb 4,5x6 cm? Das "kleine Mittelformat" dürfte auf Dauer die größten Chancen haben, weil die meisten Fotografen das Rechteck bevorzugen. Ausgereifte Digitalrückteile für dieses Format, wie das in Heft 10/2002 vorgestellte Kodak DCS Pro Back 645, signalisieren Zukunftssicherheit. Somit darf man annehmen, dass die H1 dem Hersteller neue Kundenkreise erschließt, für die Hasselblad ein klangvoller Name, aber kein Mythos mehr ist. Nicht weniger wichtig: Objektive für das 4,5x6-Format sind kleiner und leichter. Nicht nur der Fotograf muss in diesem Fall weniger Masse bewegen, sondern auch der Antrieb des AF-Systems - was nur von Vorteil sein kann.
AF-Sensor von Minolta
Herzstück des AF-Systems ist der leistungsfähige Kreuzsensor der Minolta Dynax 9. Auf weitere AF-Sensoren hat man verzichtet; gemessen wird ausschließlich in der Bildmitte. Noch zeitgemäß? Ja, meint man bei Hasselblad, weil nur der Fotograf selbst den Schärfepunkt bestimmen sollte. Das AF-System erlaubt die Betriebsarten Einzelbild mit Schärfespeicherung (Single Shot) und kontinuierliche Schärfenachführung (Continuous). Die AF-Motoren sind in die Objektive integriert, ein Umschalten zwischen manuellem und AF-Modus ist nicht nötig. Stattdessen kann man die automatische Fokussierung jederzeit korrigieren; Hasselblad nennt das "Instant Override". Noch während der photokina bestand für einige Stunden die Möglichkeit, das AF-System der HI in der Praxis zu testen. Nach ersten Erfahrungen arbeitet es einwandfrei, das heißt erstaunlich schnell und zuverlässig. Auch schwaches Licht und geringer Motivkontrast stellen für den Kreuzsensor keine Probleme dar. Vergleichsmessungen stehen zwar noch aus, doch darf man vermuten, dass der Hasselblad-Autofokus in Schnelligkeit und Zuverlässigkeit ganz vorne mitspielen wird.
Gehäusekonstruktion
Das Gehäuse besteht aus tiefgezogenem Edelstahlblech; darunter findet sich ein Alu-Druckguss-Chassis. Die champagnerfarbene Zwei-Komponenten-Lackierung mit dunkel abgesetzten Elementen wirkt unaufdringlich modern. Der Sucher zeigt 100% des Bildfeldes und ist auch für Brillenträger gut zu überblicken. Der eingebaute Dioptrienausgleich reicht von -4 bis +2,5. Rechts am Gehäuse ist ein gummierter Handgriff angesetzt, der vorne, wo er von den Fingern umspannt wird, etwas kantig wirkt. Die Kamera hat man damit zwar gut im Griff, doch will sich auf Dauer kein ausgeprägtes Wohlgefühl einstellen - wenn möglich, bitte nachbessern. Der Handgriff hat Doppelfunktion. Löst man eine Verriegelung, lässt er sich abnehmen und entpuppt sich dabei als Energiespeicher: Ein herausnehmbarer Einsatz trägt drei Lithiumbatterien vom Typ CR123A. Optional wird ein Akku-Handgriff für acht Mignonzellen erhältlich sein.
Die Bedienelemente sind ergonomisch günstig verteilt: in Reichweite des Auslösefingers ein Einstellrad, in Reichweite des Daumens ein zweites. Das beleuchtbare LC-Display ist von sechs Bedientasten eingesäumt, weitere Tasten finden sich am Reflexsucher und in dessen Nachbarschaft. Oben am Sucher sitzt ein dunkel abgesetzter flacher Aufsatz, den man für einen Design-Gag halten könnte. Tatsächlich verbirgt sich darunter ein ausklappbares Blitzgerät mit Leitzahl 12 bei ISO 100/21xGRADx. Der Purist wendet sich mit Grausen, während der Praktiker trocken konstatiert: Warum nicht, ist doch praktisch. Wenn der eingebaute Blitz an seine Grenzen stößt, kann man einen Aufsteckblitz verwenden, der dank SCA-Adapter (3902) zum TTL-Systemblitz wird. Ein adäquater Partner ist beispielsweise der Metz Mecablitz 54 MZ-3. Ergänzend bietet die HI die Möglichkeit der Blitzlichtmessung in Kombination mit einer Studioblitzanlage.
Rollfilmmagazin
Das Rollfilmmagazin HM 16-32 ist zweiteilig konstruiert: Der Film wird in einen Einsatz gespannt, der sich automatisch auf den verwendeten Filmtyp - Rollfilm 120 oder 220 - einstellt. Nach dem Einlegen des Rollfilms wird dieser automatisch zum ersten Bild vorgespult, nach dem letzten Bild der Film bis zum Ende weitergespult. Ein Display oben am Magazingehäuse gibt Auskunft über gewählte Filmempfindlichkeit, Filmtyp und Bildnummer. Bei Filmen mit aufgedrucktem ISO-Barcode wird die Empfindlichkeit erkannt und selbsttätig eingestellt - jedoch nur, wenn diese Option vorgewählt ist.
Zum Schutz des teilbelichteten Films besitzt das Magazin eine integrierte Jalousie, die man vor dem Abnehmen des Magazins mittels Drehknopf außen am Gehäuse in Position bringt. Das Prinzip des eingebauten Magazinschiebers hat Hasselblad zwar nicht erfunden - bei der Rollei 6008AF findet sich Vergleichbares -, was den hohen Praxiswert dieser Einrichtung aber keineswegs schmälert. Im Sucher wird "Darkslide" angezeigt, wenn die Jalousie vor das Filmfenster gezogen ist. Ergänzend zum Standardmagazin hat Hasselblad das Magazin HMi für Sofortbildfilm (Typ 100) im Programm.
Belichtungssystem
Die Zentralverschlussobjektive der H1 stellen als kürzeste Zeit 1/800 s zur Verfügung. Ein Schlitzverschluss ist natürlich bedeutend schneller, wie etwa die Mamiya 645 AF mit 1/4000 s beweist. Die HI kann dafür als Vorteil für sich verbuchen, dass der Blitz mit allen verfügbaren Verschlusszeiten synchronisiert, während bei der Mamiya mit 1/ 125 s die Grenze erreicht ist. Ihren Vorteil spielt die Hasselblad aber weniger im Fotostudio, sondern bei Outdoor-Aufnahmen mit Aufhellblitz aus. Am unteren Ende der Zeitskala bietet die HI Spielraum bis zum Abwinken: Sie steuert bei Bedarf Langzeitbelichtungen bis zu 18 Stunden! Auch die Betriebsarten "B" und "T" fehlen nicht.
Die Kamera bietet Programm-, Zeit- und Blendenautomatik, alle mit Shift-Funktion, und dazu die Möglichkeit, Verschlusszeit und Blende manuell einzustellen. Zur Wahl des Belichtungsprogramms drückt man die "Exposure"-Taste. Die Programmautomatik ist in zwei Varianten vertreten: Die eine arbeitet mit festgelegten Zeit-/Blenden-Kombinationen, während "Variable" die verwendete Objektivbrennweite mit berücksichtigt. Mit dem vorderen Einstellrad kann man im Menü zwischen den Programmvarianten wählen, während man mit dem hinteren Rad die Messmethode einstellt. Die Einstellungen werden durch "Save" bestätigt oder durch "Exit" verworfen. Nach diesem bewährten Muster funktionieren auch andere Grundeinstellungen, beispielsweise für den Filmtransport mit den Optionen "Single" (Einzelbild), "Continuous" (maximal ca. 2 Bilder pro Sekunde) und "Multi Exp." (Mehrfachbelichtung).
Zur Belichtungsmessung bietet die HI drei Methoden: Bei der Ganzfeldmessung werden etwa 70 Prozent des Sucherfeldes berücksichtigt, bei der mittenbetonten Messung 20 Prozent. Die selektive Messung basiert auf einem 7,5 mm großen Messkreis im Sucherzentrum; dies entspricht 2% des Sucherfeldes oder einem Messwinkel zwischen vier und fünf Grad bei einem 80-mm-Objektiv. Gemessen wird mit zwei Silizium-Dioden, die im Reflexsucher zu beiden Seiten des Strahlengangs angeordnet sind. Als Messbereich nennt Hasselblad EV 1 bis 21 bei Ganzfeld- und mittenbetonter Messung sowie EV 2 bis 21 bei Selektivmessung.
Zum Speichern der gemessenen Belichtung drückt man die AE-LTaste, ein weiterer Druck gibt die Belichtungsmessung wieder frei. Belichtungskorrekturen lassen sich ebenso einfach ausführen: In diesem Fall wählt man sich über die entsprechende Taste in das Korrekturmenü ein. Dort lässt sich die gewünschte Korrektur in Drittelblenden-Stufen über ±5 EV-Werte mittels Drehrad einstellen. Die Blitzbelichtung können Sie davon unabhängig im Blitzmenü korrigieren. Im Sucher werden die Belichtungszeit, die Blende und die Korrektur der Grundbelichtung angezeigt.
Weitere Einstellungen
Die "User"-Taste, in Reichweite des Daumens, hat im Bedienkonzept der H1 die Funktion eines Jokers: Man kann sie mit hilfreichen Funktionen nach Wahl belegen. Dazu gehören das Aktivieren des Autofokus unabhängig vom Drücken des Auslösers, das Aufrufen der Bracketing-Funktion oder des Selbstauslösers und zehn andere Funktionen. Haben Sie beispielsweise ein entsprechend angepasstes Digitalrückteil an Stelle des Rollfilmmagazins angesetzt, können Sie nach der Aufnahme das Histogramm mit der User-Taste aufrufen und im Display der Kamera anzeigen lassen. Dies ermöglicht eine Belichtungskontrolle ohne Aktivieren des Rückteil-Monitors - vorteilhaft immer dann, wenn man auf eine möglichst lange Betriebsdauer des Akkus angewiesen ist.
Zum individuellen Konfigurieren der Kamera stehen insgesamt 21 Custom-Funktionen zur Verfügung. In drei User-Profilen lassen sich die Einstellungen abspeichern und bei Bedarf wieder aufrufen. Dies bewährt sich, wenn mehrere Anwender die Kamera benutzen oder wenn diese in ganz unterschiedlichen Aufnahmesituationen zum Einsatz kommt. Letzteres ist wahrscheinlich, weil das Konzept der HI auf hohe Flexibilität angelegt ist: Fotografieren mit Film und digitalen Aufnahmemedien, mit und ohne Autofokus, im Studio und an Location. Und das Ganze mit einem Aufnahmeformat, das auch verwöhnte Agenturen überzeugt - das können Kleinbildkameras bei allem Komfort bis heute nicht bieten.
Karl Stechl in Color Foto 12/2002
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