Artikeltext

Wer in den Jahren bis zum ersten Weltkrieg in Jena spät abends oder am frühen Morgen durch die Straßen außerhalb der Innenstadt ging, sah an den Klinken der Haustüren Leinenbeutel hängen. Sie dienten zur Aufnahme der frischgebackenen Brötchen, die von den Bäckern frühmorgens frei Haus geliefert wurden. Barnack wohnte im zweiten Stock eines freistehenden Hauses in der Katharinenstraße und fand es unbequem, abends den Beutel an der Haustür anzuhängen und morgens wieder heraufzuholen. Er brachte daher am Fenster über der Haustür eine Vorrichtung an, bestehend aus einer Schnurrolle mit Spannfeder und Sperrklinke, die es erlaubte, vom Fenster aus den Beutel herunterzulassen. Der Austräger löste nach Füllen des Beutels durch Zug die Sperrklinke aus, die Feder zog ihn hoch und Barnack fand die Brötchen am Fenster. Damals und bis in die zwanziger Jahre hinein war das Format 9 X 12 cm am meisten verbreitet. Auch bei den Palmos-Kameras dominierte dieses Format. Es gehörte aber viel »Liebe zur Kunst« dazu, sich auf längeren Wanderungen mit der »gewichtigen« Ausrüstung zu behängen, die, außer der Kamera, drei mit Platten geladene Doppelkassetten, eine massive Rindledertasche und oft noch ein zweiteiliges Holzstativ umfaßte. Bei Zeiss bestand der schöne Brauch, außer Ferngläsern auch Kameras an die Werksangehörigen kostenlos auszuleihen. Man konnte so dem Fotosport huldigen, ohne sich eine teure Ausrüstung anschaffen zu müssen. Wir machten häufig Gebrauch davon und uns auch Gedanken über die künftige Entwicklung im Kamerabau. Es dünkte uns ein großer Fortschritt, als Zeiss mit einer Planfilmpackung herauskam, von der sechs Stück leicht in der Brusttasche Platz fanden. Leider stand der hohe Preis - die Filme waren noch teuer und wurden nur von Perutz und englischen Firmen geliefert - einer weiten Verbreitung entgegen. Zeiss brachte auch noch eine Minimum Palmos 6X9 cm auf den Markt, eine sehr handliche, präzise Schlitzverschlußkamera mit gedecktem Aufzug, die aber nach Gründung der ICA am 1. Oktober 1909, in welcher die Kameraabteilung von Zeiss aufging, der Typenbereinigung zum Opfer fiel. Das Prinzip des Verschlusses dieser Kamera übernahm Barnack für die erste Leica. Es fehlte durchaus nicht an Versuchen, Kameras noch kleinerer Formate zu bauen, doch hatte man zu ihnen wenig Vertrauen. Die Voraussetzungen dafür mußten erst heranreifen. Sehr überrascht waren wir daher, als Ende 1906 oder Anfang 1907 eine kleine Kamera auftauchte zur Anpassung eines Kino-Tessars 3,5/5o mm. Sie war nur wenig größer als eine der heute üblichen 8-mm-Kinokamcras, jedoch für Kino-Normalfilm und die Bildgröße 18 x 24 mm eingerichtet. Wenn ich nicht irre, war der Name der Kamera Minigraph. Vielleicht gibt es in einem Museum oder einer Sammlung noch ein Stück, das zur Bestätigung dienen könnte. Wir waren von der Kamera beeindruckt, man konnte mit ihr fotografieren, aber befriedigen konnten die Aufnahmen nicht, es fehlte an der zur Vergrößerung nötigen Schärfe. Der Mangel war bedingt durch das viel zu grobe Korn der Emulsion, die den Erfordernissen für Kinoaufnahmen entsprach, d. h. gesteigerte Empfindlichkeit auf Kosten eines feinen Korns besaß. Ich bin sicher, daß Barnack durch die Minigraph-Kamera angeregt wurde, sich mit dem Bau einer kleinen Filmkamera für Normalfilm mit etwas größerem Format zu befassen. Ob dieser Gedanke schon in Jena Gestalt annahm oder erst in Wetzlar, habe ich nicht erfahren. Wie mir Jahrzehnte später bekannt wurde, hatte man bei Zeiss die Begabung Barnacks erkannt und ihn für den Posten eines Werkmeisters vorgesehen. Er stand aber wohl schon durch Vermittlung von Ernst Mechau (Mechau-Projektor), den er bei Zeiss kennengelernt hatte, mit der Firma Leitz in Verbindung und nahm die ihm dort gebotene Stellung an. Welche Gründe diese Firma veranlaßten, die Leica in ihre Fertigung aufzunehmen, während sie bis dahin nur Miskroskope und andere wissenschaftliche Geräte baute, darf durch Veröffentlichungen als bekannt vorausgesetzt werden. Diese Zeilen mögen dazu dienen, die Erinnerung an Oskar Barnack und seine Verdienste um die Fotografie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.