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Photographica Aktuell Kameras aus der ehemaligen UdSSR Russische Impressionen Wer ein ungewöhnliches Sammelgebiet sucht, sollte sich mal in Rußland, Weißrußland und der Ukraine umsehen. Die dort ansässige Kameraindustrie hat eine große Zahl fast unbekannter, aber teils sehr origineller Kameras entwickelt. Die russische Kameraindustrie ist im Westen wegen ihrer preiswerten Nachbauten bekannt. Zu den kopierten Kameras gehören Modelle von Hasselblad und Leica, aber auch von Contax und Minox. Darüber hinaus entstand eine Vielzahl eigener Konstruktionen, deren Vielfalt, gemessen an dem sonstigen Warenangebot, überrascht. Denn eine militärische Bedeutung hatten die meisten Kameras nicht. Der Erfindungsreichtum der sowjetischen Ingenieure führte zu ungewöhnlichen Konstruktionen, die zum Teil bereits jetzt gesuchte Sammlerstücke sind. Als erste SLR für 35-mm-Film wird im allgemeinen die Exakta angesehen. Doch die "Sport` (russisch "Cnopm") kam bereits 1935 heraus! Sie war eine Kleinbild-SLR mit klobigem, starrem Lichtschacht, zusätzlichem Durchsichtsucher, auswechselbarem vierlinsigem "Industar"-Objektiv und Tuchschlitzverschluß. Allerdings benutzte die "Sport" eine Filmpatrone für 50 Aufnahmen und nicht die Leica-Patrone. Aber ihr gebührt der Titel "Erste Kleinbild-SLR". Interessanterweise finden sich in der russischen Kamerageschichte mehrere Panoramakonstruktionen. In den fünfziger Jahren entstand die FT-2 mit dem Filmformat 24x110 mm2. Der schachtelförmige Apparat ist eine Kuriosität, aus schwerem Metallguß, aber liebevoll gemacht. Das Objektiv (1:5/50 mm) ist nicht abblendbar, die Belichtungszeiten von 1/100 bis 1/400 Sekunde werden durch verschiedene Kombinationen zweier Hebel eingestellt. Der Sucher besteht nur aus einem Rahmen. Eine Wasserwaage ergänzt das Bild. Beim Filmtransport müssen die Umdrehungen des Rades gezählt werden. Urtümlich und originell war die FT-2, sogar funktionstüchtig, aber ihre Schwächen - der zu kleine vertikale Bildwinkel und die mangelhafte Bedienbarkeit - führten zur Konstruktion des Nachfolgemodells, der "Horizont". Sie hat einen Bildwinkel von 110 Grad, ist ebenfalls eine eigene Konstruktion, hauptsächlich zwischen 1968 und 1971 gebaut. Zwar gibt es die ähnliche japanische "Widelux", aber die "Horizont" kann einige Pluspunkte für sich verbuchen, vor allem den großen Sucher mit eingespiegelter Wasserwaage und den Belichtungszeitenbereich von 1/30 bis 1/250 Sekunde. Die Kamera macht einen soliden Eindruck, das Gehäuse ist selbstverständlich vollständig aus Metall, die Funktionen laufen sauber ab. Ende der achtziger Jahre kam die neuzeitliche "Horizont", nun in Kunststoff und sogar mit Langzeiten-Verschluß, heraus. Das Funktionsprinzip aller drei Kameras ist modernen "Panoramafunktionen" deutlich überlegen. Das Objektiv dreht sich während der Aufnahme, tastet scannerartig das Motiv ab und belichtet durch einen schmalen senkrechten Schlitz im Vorbeifahren den Film. Damit sind übrigens auch interessante Effekte möglich; bewegte Objekte etwa werden, je nach Bewegungsrichtung, gestaucht oder gestreckt wiedergegeben. Die "zylindrische" Perspektive gibt zwar waagerechte Linien am Rand gebogen wieder, aber bei vielen Motiven fällt dies kaum ins Gewicht. Personen am linken oder rechten Bildrand werden sogar natürlicher wiedergegeben als durch ein herkömmliches Superweitwinkel. Auch auf einem anderen Raritäten-Sektor ist die ehemalige Sowjetunion vertreten: Die Stereokamera "Sputnik" - der Name verrät die sechziger Jahre - basiert auf der zweiäugigen "Lubitel", und diese wiederum war der Voigtländer "Brillant" nachempfunden. Aber als Stereokamera mit zweimal 6x6 cm2 auf 120er Rollfilm ist die "Sputnik" durchaus ein origineller Apparat. Das Gehäuse ist aus Bakelit, die beiden Objektive sind Dreilinser (4,5/75), die Belichtungszeiten reichen von 1/10 bis zu 1/100 beziehungsweise beim späteren Modell von 1/15 bis zu 1/250 Sekunde. Die neuzeitliche "FED Stereo" ist wiederum eine ganz eigene Konstruktion, eine KB-Kamera mit dem sehr sinnvollen Format von zweimal 24x32 MM2, Programmautomatik und schwerem Metallgehäuse. Neueren Datums ist auch die Lomo 135 M. Sie sähe aus wie ein ganz normale Sucherkamera der siebziger Jahre - wenn da nicht der übergroße Aufzugsknopf wäre. Er beherbergt ein Federwerk für acht Aufnahmen Der Filmtransport macht sich durch ein kurzes, deutliche Ratschen nach der Aufnahme beim Loslassen des Auslösers bemerkbar - viel kürzer, als wir es von neueren Motorkamera der Amateurklasse kennen. Ach Bilder pro Sekunde dürfte technisch durchaus drin sein nur fehlt dafür ein entsprechen schneller Finger auf dem Auslöser. Eine Serienschaltung gibt es nämlich nicht. Auch sonst ist die Kamera eher für den bedächtigen Fotografen ausgelegt; der Objektivtubus ist mit Wettersymbolen übersät, und sogar im Sucher werden Entfernungssymbole angezeigt: Wo hierzulande für "unendlich" eine Berglandschaft abgebildet wird, zeugt die Lomo 132 M von der kommunistischen Wohnungsbaupolitik. Sie zeigt ein Hochhaus. Das Objektiv ist ein Industar 2,8/40. Dieser Typ entspricht vom Aufbau her dem deutschen Tessar. Mein Favorit unter den russischen Apparaten ist die "Narziss" aus dem Jahr 1964. Bei der Namensgebung bewiesen die Erfinder ebensoviel Phantasie wie bei der Konstruktion: Narziß war der Jüngling der griechischen Sage, der sich in sein Spiegelbild verliebte. Auch die Kamera hat etwas Niedliches an sich, sie stellte aber zugleich einen Weltrekord auf: Sie war die kleinste serienmäßig hergestellte SLR der Welt! Erst die Pentax 110 brach diesen Rekord. Die Narziss ist für 16mm-Film gebaut. Das Objektiv ist auswechselbar (Schraubgewinde), und sogar der Prismensucher ist abnehmbar und legt den Lichtschacht frei! Die Metallkonstruktion wirkt solide, wie eine verkleinerte Kleinbildsystemkamera. Sie verfügt über einen Schlitzverschluß (l/21/500 Sekunde) und X- und M-Kontakt. Das Objektiv ist ein fünflinsiges Volna 2,8/35mm. Eine Einrichtung zur Blendenvorwahl oder gar eine Springblende sucht man vergeblich. Aber dieser Apparat ist ein wunderschönes, funktionstüchtiges Spielzeug. Die Datierung der meisten Apparate aus Ex-Sowjetunion oder GUS ist übrigens leicht: normalerweise zeigen die beiden ersten Ziffern der Fabrikationsnummer das Baujahr an. Es gibt aber auch Ausnahmen (etwa bei der Marke FED). Volker Horstmann in Color Foto 6/1994 {ewl Thnhlp32.dll,THIN,SKIN.LZH;STEIMERM.BMP}