Artikeltext

Beratung Billigkameras aus China Drei aus dem Reich der Mitte Wie billig darf eine Kamera überhaupt sein? Diese Frage stellt sich zwangsläufig angesichts dreier Mittelformatkameras aus China, von denen die teuerste mit dem blumigen Namen "Great Wall" gerade 400 Mark kostet. Die beiden im Reich der Mitte besonders populären Seagull-Modelle sind gar schon für den Preis einer Simpel-Kompaktkamera zu haben. Zu billig, um gut zu sein? Die beiden Seemöwen aus Shanghai sind weitgereiste Zugvögel. An einem Nachmittag im Spätherbst flatterten sie mir auf den Schreibtisch. Nein, es handelte sich dabei nicht etwa um die gefiederten Zeitgenossen, die Schriftsteller Richard Bach für seinen "Jonathan" als Vorbild dienten, sondern um zwei Kameras aus der volksreichsten Republik der Erde. Sie tragen den poetisch anmutenden Namen Seagull und ein Möwensymbol auf Faltlichtschacht oder Frontseite. Nachdem ich sie aus der erdig-muffig riechenden Leder-Breitschaftstasche herausgeschält hatte, glaubte ich zunächst, zwei alte Bekannte vor mir zu haben. Unschwer als Rolleicord-Kopie zu identifizieren ist der Typ 4B1, wahrend die Mittelformat-Klappkamera Typ 203-1 Reminiszenzen an eine Zeiss-Ikon Meß-Konta IIIb der frühen fünfziger Jahre weckt. Wobei allerdings Schnellschalthebel und Blitzschuh mit Mittenkontakt so störend fürs nostalgische Flair wirken wie ein Bordcomputer im Bugatti. Viel Kamera für's Geld, dachte ich mir. Denn die Ausstattung laßt für den Preis kaum Wünsche offen. Einzig ein Belichtungsmesser muß noch angeschafft werden, um ins billige Mittelformatvergnügen einzusteigen. Dabei gilt es allerdings höllisch aufzupassen, daß der nicht teurer gerät als die Kamera. Letzte Instruktionen holte ich mir aus der chinesisch und englisch abgefaßten Bedienungsanleitung. Das Faltblatt ist auf arg holzhaltigem Papier gedruckt und mit vielen bunten Bildchen lächelnder junger Frauen versehen. Danach konnte die Nostalgie-Expedition los gehen. Bei der Handhabung der beiden Kameras fiel auf daß insbesondere die Klappkamera sehr gewöhnungsbedürftig ist. Es erfordert eine gewisse Zeit bis alle Griffe richtig sitzen, so daß man sich auch einmal an ein bewegtes Motiv heranwagen kann. Das Sucherbild mit dem zitronengelben Mischbildindikator ist recht diffus. Seine Beobachtung und das gleichzeitige Bewegen des schmalen Fokussierrings an der Frontlinse erfordert einiges Geschick, das so manchem Fotografen im Autofokus-Zeitalter abhanden kommt. Besser geht das Fotografieren eindeutig mit der Zweiäugigen, obwohl auch sie auf die sorgfältige Trennung von Verschlußaufzug und Filmtransport besteht. Die recht helle Mattscheibe mit Schnittbildindikator erlaubt eine sichere Beurteilung von Motiv und Scharfe, auch die Verarbeitung des Rollei Plagiates macht einen besseren Eindruck. In Kürze gibt es ein Pendant mit Kurbel. Überraschend gut fiel die Bildqualität bei beiden Kameras aus. Plus für die Zweiäugige Schärfere und brillantere Bilder lassen sich in der Preisklasse mit keiner anderen Kamera machen. Hier war die Pseudo-Rollei allerdings abermals im Vorteil, was sicher auf die genauere Fokussierung zurückzuführen ist. Als einäugige Spiegelreflex-Wechselobjektivkamera (M-39) konzipiert, offeriert die Dritte im Bunde mehr gestalterische Möglichkeiten, die allerdings bei der großen Mauer' mangels Objektivangebot vorläufig noch brach liegen. Allenfalls kann sie als Vorteil eine gewisse Nahbereichstauglichkeit für sich verbuchen. Doch ein Konverter wird demnächst in Aussicht gestellt. Der Preis ist zwar sensationell, jedoch vermag die Verarbeitungsqualität bei dem Schlitzverschlußmodell noch nicht zu überzeugen. Womit ich auch bei der typischen Achillesferse der chinesischen Billigangebote angelangt wäre: Obwohl Importeur Brenner (B.I.G., Postfach 1229, 8480 Weiden) nicht nur eine deutsche Bedienungsanleitung beilegt, sondern die Kameras auch nachbearbeitet, mußte ich auf meinen Fotoexkursionen ein paarmal in die Knie gehen, um nach abgefallenen Schrauben zu suchen. Ein bißchen beruhigend wirkt bei solch unbekümmerter Fertigung und Endkontrolle die Einjahresgarantie. Damit auch diese Billigkameras meinen hohen ästhetischen Ansprüchen gerecht wurden, war es notwendig, die Klebstoffreste mit Waschbenzin zu entfernen und die Belederung hier und dort festzukleben. Dennoch, das Abenteuer Fotografie lebt. Es kann schon für 150 Mark beginnen und ist in jeder Hinsicht aufregender, befriedigender und lehrreicher, als der bloße Knopfdruck auf den Auslöser des sechsmal so teuren Vollautomaten. Alf Cremers in Color Foto 2/1988 {ewl Thnhlp32.dll,THIN,SKIN.LZH;STEIMERM.BMP}