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SERVICE Photographica
Vom einfachen Deckel zum Schlitzverschluß mit 1/12000 Sekunde
Kameraverschlüsse
Am Anfang war der Pappdeckel, der vor dem Objektiv saß und für die Aufnahme abgenommen wurde. Bei den damaligen Belichtungszeiten war diese Verschlußtechnik durchaus praxisnah - und bis zu den heutigen Hochleistungsverschlüssen war es noch ein weiter Weg.
Die ersten mechanischen Verschlüsse - etwa ab 1855 - nahmen den Platz des Deckels ein, wurden also vor das Objektiv gesetzt. Die Technik war sehr übersichtlich: Ein schwarzes Rollo, mit einem Loch in der Mitte, lief, durch eine Feder in der einen Achse angetrieben, vor dem Objektiv ab. Die Federspannung war verstellbar, um die Belichtungszeit zu regeln. Diese wurde nicht vom Hersteller justiert. Vielmehr hatte der Benutzer den Verschluß durch Versuche selbst zu kalibrieren. Daß das Rollo auch beim Spannen Licht durchließ, störte damals nicht, da der Abdeckschieber für den Film oder die Platte erst kurz vor der Aufnahme herausgezogen wurde. Doch die Ansprüche wuchsen, und die Technik wurde raffinierter. Der oben abgebildete Rolloverschluß erlaubte nur Zeiten von 1/90 bis zu 1/500 Sekunde. Kürzere Zeiten hätten durch die stärkere Federspannung deutliche Vibrationen erzeugt. Andererseits konnte man die Feder für Langzeiten auch nicht beliebig lockern, weil sonst das Rollo steckengeblieben wäre. Also mußte eine besondere Hemmvorrichtung her.
Die meisten Leser kennen sicher das schnelle Ticken mechanischer Kameras, das bei Belichtungszeiten zwischen einer Viertelsekunde und einer Sekunde zu hören ist. Aber schon um die Jahrhundertwende gab es Verschlüsse, die geräuschlos abliefen. Dies war möglich dank Luftbremse. Bei "pneumatischen" Verschlüssen verdrängt ein winziger Kolben die Luft aus einem Zylinder, und das braucht seine Zeit. - Beim GuillotineVerschluß aus der Frühzeit der Fotografie fielen nacheinander zwei Platten, um den Strahlengang freizugeben und wieder zu schließen. Der sphärische oder Augenlidverschluß, der bis um die Jahrhundertwende hergestellt wurde, ist am halbkugelförmigen Gehäuse zu erkennen. Darin bewegte sich ein gewölbtes Blech zum, Öffnen und Schließen des Strahlengangs. Der Schleuderverschluß gehört zu den primitivsten Formen und findet sich in Zigtausenden von Wegwerfkameras: eine einteilige Objektivabdeckung wird beim Auslösen durch einen Mitnehmer aus dem Strahlengang geschleudert und schwenkt anschließend durch Federkraft wieder zurück. In den zwanziger Jahren setzte sich mehr und mehr der Compur-Verschluß der Firma Deckel durch, zunächst mit kleinen Bedienungselementen und Anfang der dreißiger Jahre dann mit dem großen Zeitenring und meistens mit fünf Verschlußlamellen. Die ebenfalls weitverbreiteten Pronto-Verschlüsse waren bzw. sind ähnlich. Für die Langzeiten sorgt ein Räderwerk, das durch einen Anker wie in einer Federwerk-Uhr gebremst wird. Diese Verschlüsse sind zweifellos mechanische Meisterwerke. Schon die ringförmige Anordnung um die Objektivöffnung herum ist faszinierend. Die Modulbauweise erleichtert den Überblick: Das Langzeitenwerk ist komplett herausnehmbar, ebenso das Vorlaufwerk. Das letztere dient als Selbstauslöser und läßt die Verschlußlamellen erst dann in Aktion treten, wenn das Räderwerk abgelaufen ist. Compur- und Pronto-Verschlüsse waren weit verbreitet und trugen sicher zur Blüte der deutschen Kameraindustrie bei.
Die beste Anordnung der Lamellen braucht Zeit, so daß die Randstrahlen etwas weniger Durchlaß erhalten als die mittleren Strahlen. Wenn nun der Zentralverschluß nicht im Zentrum der Optik sitzt, bekommen die Bildränder weniger Licht. Unter der Lamellenträgheit kann auch die Belichtungsgenauigkeit leiden: Bei großen Blenden wirkt sie sich ganz anders aus als bei kleinen. Das ist in der Praxis wohl Vernachlässigbar, aber das Phänomen ist vorhanden.
"Focal Plain Shutter"
Die große Alternative zum Zentralverschluß ist der Schlitzverschluß. Er gewann gegen Ende des vorigen Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung, etwa durch den Fotografen Ottomar Anschütz. Auf englisch heißt er "focal plain shutter", was soviel heißt wie "Verschluß an der Filmebene" - eine Bezeichnung, die seine Besonderheit wesentlich besser trifft. So muß bei der Objektivkonstruktion keinerlei Rücksicht auf den Verschluß genommen werden, was besonders hochlichtstarken Wechselobjektiven und natürlich Spiegelreflexkameras zugute kommt.
Daß der Rekord bei 1/12000 Sekunde liegt, belegt die Schnelligkeit des Schlitzverschlusses. Ein Blick in die Kamerageschichte läßt uns allerdings staunen: Die Kameras des Schweizers Guido Siegrist boten schon im Jahre 1898 die unglaubliche Zeit von 1/10000 Sekunde - wenigstens theoretisch.
Ob diese Zeit in der Praxis eingehalten wurde und ob sie bei den damaligen Filmempfindlichkeiten überhaupt Sinn hatte, darf bezweifelt werden. Ursprünglich funktionierten Verschlüsse an der Filmebene ähnlich wie der beschriebene Rolloverschluß. Die Schlitzbreite war unveränderlich, die Zeiten wurden durch die Ablaufgeschwindigkeit geregelt.
Moderner Schlitzverschluß
Doch in den zwanziger Jahren war der Schlitzverschluß weitgehend perfektioniert. Bei den zeittypischen Kameras gibt bei Druck auf den Auslöser der erste Vorhang innerhalb von 1/25 Sekunde das Bildfeld frei, dann löst ein Mitnehmer auf der Achse des ersten Vorhangs den zweiten Vorhang aus, der das Bildfeld mit der gleichen Geschwindigkeit wieder abdeckt. Wenn 1/50 Sekunde eingestellt wird, löst der Mitnehmer bereits dann den zweiten Vorhang aus, wenn der erste das Bildfeld erst halb geöffnet hat. Bei noch kürzeren Zeiten wird entsprechend verfahren. Beim Spannen des Verschlusses überlappen die Vorhänge einander. Für längere Zeiten gibt es wiederum ein Hemmwerk. Das Hemmwerk funktioniert ähnlich wie beim Compur-Verschluß und verrät sich durch schnelles Ticken bei Langzeiten. Die ersten Hasselblad-SLRs gingen 1948 einen leiseren Weg: Anstelle des Ankers sorgte ein kleines Windrad für die Verzögerung.
Zu den Nachteilen der Schlitzverschlüsse gehörte zunächst die Anfälligkeit für Erschütterungen, besonders bei größeren Formaten. Letztere benötigten sogar besondere Vorrichtungen, damit die Vorhänge nach dem Ablaufen nicht zurückschlugen.
Und mit der Einführung des ultrakurzen Blitzlichts zeigte sich ein weiterer Nachteil: Es konnte ja nur bei ganz geöffnetem Bildfeld, also bei den meisten Kameras nur bei 1/25 oder 1/30 Sekunde angewendet werden. Diese Nachteile sind heute weitgehend behoben; bei den schnellsten Schlitzverschlüssen für Kleinbildkameras geht die volle Öffnungs- und Blitzsynchronisationszeit bis 1/300 Sekunde. Wer
beim Schlitzverschluß die kürzesten Zeiten benutzt, kann interessante Phänomene beobachten. Ein rotierender Flugzeugpropeller etwa wird auch bei scharfer Abbildung eine deutliche Biegung der Propellerflügel aufweisen; die Räder eines fahrenden Wagens können elliptisch abgebildet werden. Auch das liegt daran, daß bei kurzen Zeiten nicht das ganze Bildfeld zugleich belichtet wird, sondern sozusagen vom Schlitz abgefahren wird. Dies spricht jedoch kaum gegen den Schlitzverschluß, denn so kurze Zeiten schafft einfach keine andere Konstruktion. Vor allem unter den Mittelformat-Systemkameras gibt es aus den genannten Gründen noch eine deutliche Tendenz zum Zentralverschluß. Die ersten Schlitzverschlüsse waren aus Gummituch; dieses Material hat sich, stetig verbessert, bis heute als erstaunlich haltbar erwiesen. Auch flexible Metallfolien wurden und werden verwandt.
Entwickelte sich bei Zentralverschlüssen schon früh eine Spezialisierung, so wurden im Gegensatz dazu die Schlitzverschlüsse meist von den Kameraherstellern selbst angefertigt. Doch 1976 entstand in Zusammenarbeit von Leitz und Copal der CLS-Verschluß (CLS = Copal-Leitz-Shutter), der bei der Leica R3 Anwendung fand. Die Vorhänge wurden durch mehrere senkrecht ablaufende Metallamellen ersetzt, die durch eine Parallelogrammkonstruktion fächerartig zusammen- bzw. auseinandergefaltet werden.
Heute haben es die Kameraverschlüsse zu unglaublicher Schnelligkeit und Perfektion gebracht. In der Regel werden sie elektronisch gesteuert, so daß auch lange Zeiten lautlos ablaufen. Zentralverschlüsse werden weitgehend durch Elektromagnete betätigt. Trotzdem gibt es eine ernstzunehmende Minderheit von Fotografen, die mechanische Kameras vorziehen, weil etwa durch hohe Luftfeuchtigkeit die Elektronik lahmgelegt werden könnte. Die Hersteller von Profikameras haben jedenfalls nach wie vor vollmechanische Kameras im Programm.
Volker Horstmann in Color Foto 2/1996
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