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Reflextechnik
Gibt es brillenfreundliche Reflextechnik?
Brillenfeindliche Kameras gibt es: Davon zeugen zahlreiche verkratzte Gläser (auch meine), die zu verschiedenen Zeiten mit sauber gearbeiteten und scharf gerändelten Okularringen in Berührung kamen. Am schlimmsten dran sind Träger der hochmodernen Lightweight-Kunststoffbrillen, deren auch hochteure "Gläser" bei nur einem hauchfeinen Darüberstreichen permanente Spuren davontragen.
Dieser Unfug legte sich erst, als Kamerafabrikanten zu den billigen Kunststoffokularfassungen übergingen oder zumindest Einschraubringe mit Gummi verkleideten.
Aber auch ein gummierten Okular wird davon noch nicht brillenfreundlich. Schätzungsweise tragen 50 % aller Fotografen eine Brille. Vermutlich auch 50% aller Kamerakonstrukteure. Wenn nur die Hälfte der letzteren manchmal durch die von ihnen konstruierten Kameraokulare blicken würden, hätten wir wahrscheinlich bessere Reflexsucher.
Das Problem aus der Sicht des hinter dem Okular und hinter einer Brille sitzenden Fotografenauges ist einfach: Ohne Brille sieht das (kurzsichtige) Auge praktisch nur das verschwommene Einstellscheibenbild und die oft ganz unerkenntlichen Belichtungsangaben (Verschlußzeiten- oder Blendenskala); bestenfalls ist noch eine von rot auf grün wechselnde Leuchtdiode (Belichtungs- oder Fokusautomatik) wahrnehmbar. Mit Brille ist das Sucherbild scharf - aber die Ränder (und seitliche oder darunterliegende Skalen) nur bei schrägem Durchschielen durch das Okular sichtbar. Bei schrägem Einblick ist dann auch der Schnittbildindikator halb dunkel und der Mikroprismenring unbrauchbar.
Die beiden einfach aussehenden Lösungen sind leider auf den zweiten Blick überraschend komplizierter. Die heißen 1) Okularkorrekturlinse und 2) brillenfreundliche Sucher.
Brillenträger können sich eine dem Brillenrezept entsprechende Korrekturlinse am Okular befestigen. Soweit die Theorie. Die Praxis: Fast alle Kamerahersteller bieten Okularkorrekturlinsen für kurz- und weitsichtige Benützer.
Probleme der Okularlinse
Bevor wir den scheinbaren Einklang zwischen Theorie und Praxis näher untersuchen, ein zweites Problem: Um durch ein so bewaffnetes Kameraokular zu blicken, muß ich meine Brille abnehmen oder zumindest hochschieben. Aber ohne Brille sehe ich dann außerhalb des Kamerasuchers wieder nichts. Eine meiner Brillen ist zwar hochklappbar - nützt aber auch kaum, denn das hochgeklappte Glas wird nun anstatt vom Okularring vom Blitzschuh zerkratzt. Darum behalten eben die meisten Kamerabenützer doch die Brille auf, schielen durch den verengten Einblick und schimpfen auf den Konstrukteur.
Wenn ich durch ein Fernglas schaue, wird aber die Brille doch hochgeschoben. Teils, weil Ferngläser (auch angeblich auf Brille abgestimmte B-Modelle) noch unbequemer für den Brillendurchblick sind als Sucherokulare. Teils, weil Ferngläser fokussierbar und somit ziemlich genau auf Sehstärke nachstellbar sind.
Das ist nämlich, wo Theorie und Praxis der Korrekturlinsen auseinandergehen. Denn ein Sortiment von etwa +2 bis -3 Dioptrien heißt +2, +1,0, -1, -2 und -3 aber keineswegs -1,5 und schon gar nicht mit Astigmatismuskorrektur. Rezeptgemäße Korrekturlinsen sind also Ausnahme, nicht Regel. Manchmal gibt es Behelfe: Wer nur eine verhältnismäßig schwache Korrektur braucht, kann sich ein Brillenglas auf Okularlinsengröße beschneiden lassen. Aber erstens geht das nur schlecht für Kameras mit rechteckiger Plastikokularfassung; zweitens wird diese Linse oft zu dick für einen Einschraubring.
Die Nulldioptrie
Sortimente der Korrekturlinsen enthalten oft auch eine von 0 Dioptrie. Dieser Nullwert ist nicht - wie es der Optiker erwarten würde Planglas, sondern eine Linse, die zusammen mit der schon eingebauten Okularkorrektur einen Sehwert von 0 Dioptrie ergibt. Denn Reflexkamerasucher sind fast nie für 0 D ausgelegt, wo also das Sucherbild in einem Betrachtungsabstand Unendlich (es ist hier von der Augenadaption die Rede) erscheinen würde. Am weitesten verbreitet ist ein eingebauter Korrekturwert von -1 D; das Sucherbild erscheint als ob es 1 m entfernt wäre. Oft ist dieser Adaptionszustand komfortabler. Wer aber nun mit Brillenrezept -3 D eine Korrekturlinse von -3 D in seinen Sucher einschraubt, sieht wieder falsch. Denn um das Bild im scheinbaren Betrachtungsabstand von 1 m zu sehen, braucht er eine Korrekturlinse von -4 D. Vorausgesetzt natürlich, daß der betreffende Kamerahersteller seine Korrekturlinsen nach diesem Modell bezeichnet.
Kann man also eine eingebaute Grundkorrektur von -1 D voraussetzen? Leider nein. -1 D haben zwar verhältnismäßig viele Modelle (Canon, Leica R4, Contax 139, Yashica FX-D, Nikon F3 und FM2 usw.), aber es gibt andere mit -0,5 D (Olympus, Ricoh), -0,75 D (Contax 137, Yashica FX3), -1,2 oder -1,25 D (Minolta, Nikon EM, Pentax LX, Rollei SL 2000) und selbst -1,5 D (Bronica SQ).
Merkwürdig ist, das fast niemand an eine variable Okularfokussierung gedacht hat. Dabei hatte das schon die Meßsucherkamera Leica vor 50 Jahren und in der Zwischenzeit die meisten Schmalfilmkameras. Aber unter Spiegelreflexkameras steht die Pentax LX (mit ihrem Sucher FA-1) allein mit einem Einstellbereich von 0 bis -1,5 D da - womit man mindestens eine Feinabstimmung in Verbindung mit Linsen fester Dioptrienwerte erreichen kann.
Warum gibt es das nicht bei anderen? Mit Wechselsuchern ausgestattete Kameras haben meistens u. a. einen Aufsicht-Lupensucher, oft bis 1,5fach vergrößertem Bild (das dann aus Publizitätsfreude als 6x Lupenbild angegeben wird) und einer Lupeneinstellung von z. B. -5 bis +3 Dioptrien. Selbst wenn das in Wirklichkeit -4 bis +4 D sind, ist der Durchblick durch so einen Lupensucher ein wahres Vergnügen - wenn man mit dem Aufsichtbild auskommt und einen Wechselsucher hat!
Mit im Sucher eingespiegelten Verschlußzeiten- und Blendenangaben erschien dort auch ein weiteres Problem. Dioptrisch gesehen, erscheinen nämlich das Sucherbild und die Skalen praktisch nie im gleichen anscheinenden Betrachtungsabstand. Wenn das Auge das Sucherbild betrachtet, muß es zur Kontrolle der, z. B. von der Automatik gewählten Zeit, umfokussieren - genau wie wenn man ~ beim Zeitungslesen _1ä aus dem Fenster auf _ die Straße blicken will. So kann es vorkommen, daß man das Sucherbild scheinbar bei 0,8 m, die Zeitenskala bei 0,63 m und die eingespiegelte Blende bei fast 1,5 m sieht, also "eingebaute" dioptrische Korrekturen von -1,2, -1,6 und -0,7. Die Unterschiede sind durch die Konstruktion der Einspiegelungsoptik bedingt; bei größeren Abweichungen wird die Benützung der Kamera stark ermüdend - ein verborgener Ärger der Benützerunfreundlichkeit. Das hat übrigens nichts mit Brillenfreundlichkeit zu tun, denn die unbequemen Dioptrienunterschiede kann keine Korrekturlinse ausgleichen.
Zurück zum Problem des Fotografen, der mit Brille das ganze Sucherbild mit allen Skalen erfassen will. Geht nicht? Doch, es geht wenn man bereit ist, entsprechend mehr zu bezahlen.
Das Problem heißt Pupillenabstand und es kostet (abgesehen von Geld) Suchergröße, Vergrößerung und Gewicht. Unter Pupillenabstand versteht man die Lage der Austrittspupille hinter dem Suchereinblick, also den Punkt, in den man das Auge setzen muß, so daß es das gesamte Sucherbild (mit Skalen usw.) erfaßt. Beim durchschnittlichen Reflexkamerasucher liegt diese Austrittspupille 10-13 mm hinter dem Scheitel der Okularlinse. So lang also das Auge nicht weiter als 13 mm hinter dem Okular einblickt, sieht es das ganze Sucherbild. Ohne Brille kein Problem - mit Brille unmöglich. Da kommt das Auge selten näher als 20 mm zum Okular. Das letztere engt dann die Sicht ein, wichtige Informationen sind nicht mehr zu erkennen.
Problemlösung aus der Raumfahrt?
Als in den sechziger Jahren Raumfahrer in ihren Kreisbahnen spazieren und fotografieren gingen, brauchten sie nicht nur eine brillen - sondern eine raumhelmfreundliche Kamera. Nikon konstruierte 1966 einen Reflexsucher, in den man auch aus 60 (!) mm Sichtabstand das ganze Bild erfaßte. Diesen Sucher gibt es (in leicht abgewandelter Form) heute noch: Für die Nikon F3 ist es der DA-2 Action Finder; ähnliche Typen gibt es für einige andere Wechselsucherkameras. Aber: Der Sucher DA-2 ist volumenmäßig fast doppelt so groß wie der normale Prismensucher DE-2, wiegt und kostet fast dreimal so viel. Die Suchervergrößerung ist auch etwas geringer: 0,7x mit Normalobjektiv anstatt 0,8.
Ein Schlußwort: Es gibt nicht nur brillenfeindliche Kameras, sondern auch kamerafeindliche Brillen. Nämlich wenn sie nicht vergütet sind und man bei bestimmten Lichtrichtungen mehr von den Hautporen der eigenen Backe als vom Sucherbild sieht.
L. Andrew Mannheim in Color Foto 10/1983
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