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Artikel
1998
Thema des Monats
Entwicklungsgeschichte einer Kamera - Leica M6
Stationen einer Karriere
Jahrzehntelang träumten Leitz-Techniker und Leica-Fotografen von einer integrierten Belichtungsmessung bei der einzigartigen Meßsucher-Leica. Erst 1971 wurde mit der M 5 dieser Traum für kurze Zeit Wirklichkeit, freilich um den Preis der Kompaktheit und eines immens hohen Bauaufwands. Die M 5 fiel schon 1975 dem Rotstift der Leitz-Manager zum Opfer: M6 lautet die knappe Antwort auf die ewig junge Frage der Leica-Fans nach einem eingebauten Belichtungsmesser. Doch bis dahin war es ein weiter Weg.
Die Entscheidung fiel vor dem Mittagessen an einem Sommertag des Inflationsjahres 1923, und man munkelte damals, ein knurrender Magen hätte sie beschleunigt. Dr. Ernst Leitz, nach Manier der Ford-Dynastie als Sohn des Firmengründers mit einer römischen II am Ende seines Namens versehen, beschloß patriarchalisch nach zähem Ringen: "Die Barnacksche Kleinkamera wird gebaut".
Seine Nachfolger taten gut daran, diese Entscheidung bislang nicht zurückzunehmen, obwohl die übermächtige Spiegelreflex-Konkurrenz die legendäre Kamera ab etwa 1965 in eine enge Nische zurückdrängte. Die Stückzahlen sanken rapide, trotz eines Preisniveaus, das am Rande des Erträglichen lag. Hinzu kam die Konkurrenz aus dem eigenen Hause in Form von leisen, zuverlässigen Spiegelreflexkameras.
Neue Impulse waren notwendig, um die Stückzahlen der Meßsucher-Leica über die Rentabilitätsschwelle zu hieven. Was die M 5 in den siebziger Jahren nicht schaffte, der M6 von 1984 gelang gleich ein beachtlicher Hattrick:
1. Integrierte TTL-Belichtungsmessung unter Beibehaltung des klassischen M-Formats.
2. Auslastung aller Kapazitäten der M-Produktion, so daß Lieferzeiten von bis zu einem halben Jahr die Geduld der M6-Käufer strapazieren.
3. Edelamateure und Profis, die elektronikmüde geworden sind entdecken die Meßsucherkamera neu.
Von der Ernst-Leitz-II-Entscheidung bis zur Sensation der photokina 1984 war es zweifellos ein weiter Weg. Die Barnack-Kamera erfuhr in den ersten zwanzig Jahren nach ihrer Geburt zahlreiche Verbesserungen. Schlitzverschluß, gekuppelter Entfernungsmesser, die kurze 1000stel Sekunde und Schraubenschluß gehörten in den dreißiger Jahren ebenso zum Glaubensbekenntnis der Leica wie ein möglichst umfangreiches Aufnahmezubehör für die meisten fotografischen Aufgaben, das sogar bis zum Spiegelkasten Visoflex reichte.
Die Wende bei Leitz: M3
Nach dem Krieg machte man sich in Wetzlar daran, das bewährte Konzept im Sinne des Fortschritts neu zu überdenken. Ein Bajonett mußte her, ebenso ein gescheiter Leuchtrahmensucher statt des unübersichtlichen Gucklochs. Außerdem haben sich Leitz-Ingenieure die Aufgabe gestellt, der Fummelei mit den Aufstecksuchern ein Ende zu bereiten.
Heraus kam dabei 1954 die Leica M3, wobei M für Meßsucher und "drei" für drei eingespiegelte Leuchtrahmen steht: 50 mm, 90 mm und 135 mm. Laut Entwicklungschef Dieter Schaefer leitete die M3 "die Wende in Leitz-Technik und Design" ein. Das automatische Bildzählwerk, der Parallaxenausgleich über den gesamten Einstellbereich und der Schnellschalthebel charakterisieren die M-Leica als technische Meisterleistung ihrer Tage.
Den eingebauten Belichtungsmesser vermißten die Fotografen damals noch nicht. Schwarzweiß-Negativmaterial dominierte, dessen Belichtungsspielraum war ausreichend groß. Die goldene Regel des alten Leica-Papstes Dr. Paul Wolff "belichte reichlich, entwickle kurz" hatte nach wie vor ihre Gültigkeit.
Außerdem gab's ja Zubebörbelichtungsmesser wie das Leicameter und den Gossen Sixtar. Versierten Fotografen, in deren Händen sich die Leica meist befand, konnten überdies die richtige Zeit-Blenden-Kombination aufgrund von Erfahrungswerten bestimmen. Die Leica M3 avancierte zum Riesenerfolg,
nicht zuletzt aufgrund ihres schlichten, funktionellen Designs. Jeder, der eine M-Leica - ob eine dreißig Jahre alte M3 oder eine M6 von heute in die Hand nimmt, findet sie auf Anhieb sympathisch. Die abgerundeten Ecken schmiegen sich der Innenhand nahtlos an. Der leicht abgewickelte Schnellschalthebel ruht aktionsbereit auf der Daumenkuppe, der gekrümmte Zeigefinger findet wie von selbst seinen Platz auf dem Auslöser. Gottvater und Ergonomie-Prediger unter den Konsumgüter-Designern, der vollmundige Colani, ansonsten nur von seinen Werken überzeugt, äußert sich ungewohnt euphorisch: "Die Leica kann man nicht verbessern ".
Doch gerade das betont sachliche, funktionelle M-Design stieß bei den damaligen Leitz-Oberen auf wenig Gegenliebe.
Der Einbau-Belichtungsmesser tat dringend Not
Ein junger Absolvent der Akademie für Gestaltung namens Heinrich Janke legte seine Entwürfe für die neue Kamera der Geschäftsleitung vor, die sie kopfschüttelnd kommentierte. Janke heute: "Die hätten mich fast gesteinigt". Sicher mußten die hohen Herren umdenken: Sie waren an das "technische" Erscheinungsbild der Schraub-Leica gewöhnt. Die Studie erschien ihnen zu glattflächig, zu modisch. Doch Janke setzte seine Konzeption mit Überzeugungskraft durch. Einziges Zugeständnis an den Zeitgeschmack bleiben die erhabenen, barocken Rähmchen um Sucher- und E-Messerfenster. Sie verschwanden endgültig bei der M4-2.
Farbfilme und Diafilme schickten sich Ende der fünfziger Jahre an, den Markt zu erobern. Das Schätzen des Belichtungswertes führte nun plötzlich nicht mehr zu zufriedenstellenden Aufnahmen. Die Selbstverarbeitung und damit gleichzeitig die Korrekturmöglichkeit fiel weg, das Farbmaterial war zu teuer, um Belichtungsreihen durchzuprobieren. Leitz bot das Leicameter, einen zeitgekuppelten Aufsteckbelichtungsmesser als Problemlösung an. Doch in einer Zeit, wo jede simple Amateurkamera (beispielsweise Agfa Silette, Adox Polomat) einen Einbaubelichtungsmesser besaß, brannte das Integrationsproblem bei Leitz lichterloh.
Jankes Team schuf 1962 in Zusammenarbeit mit der Entwicklungsabteilung einen entsprechenden Selen-Prototyp der deutlich größer und klobiger ausfiel als die bisherigen M-Leicas und deshalb vergeblich auf grünes Licht wartete.
Inzwischen trugen die Leitzianer mit einem neuen M-Parallelmodell namens M2 der Spiegelreflexkonkurrenz und den neuen Bedürfnissen der Profifotografen Rechnung. Man erkannte die modern gewordene, hautnahe Reportagefotografie mit deM35erWeitwinkel als Domäne der M-Kamera und verabschiedete sich vom 1:1 Sucher der M3. Bei ihr bekam das 35er Reportageobjektiv eine Brille verpaßt, damit der Fotograf im Sucher den richtigen Bildausschnitt sah. Die M4-P erhielt 1980 als abermaligen Tribut an den Trend sogar einen 28 mm-Sucher.
Die 1958 präsentierte M2 lief der Generationsmutter M3 allmählich den Rang ab. Die Fotografen gaben deM35 mm-Bildfeldsucher eindeutig den Vorzug. Auch die Tatsache, daß sich die Leica M2 durch den mechanischen Schnellaufzug Leicavit beschleunigen ließ, machte sie bei Profis beliebt und tröstete über das kurioserweise nicht automatische Bildzählwerk hinweg.
Was lag also für Leitz beim nächsten Entwicklungsschritt näher als die Vorzüge von Leica M2 und M3 zu kombinieren und das Ganze, mit einem Schuß Modellpflege versehen, "M4" zu taufen.
So geschehen in Wetzlar Anno 1967. Leuchtrahmen für die Brennweiten 35, 50, 90 und 135 mm, ein automatisches Bildzählwerk, eine ausklappbare, schräg angesetzte und damit vom aufgesteckten Leicameter nicht behinderte Rückspulkurbel rechtfertigten die neue Ziffer. Auf das schicksalhafte Problem der Belichtungsmessung gaben die Leitz-Ingenieure jedoch immer noch keine befriedigende Antwort.
Das neue Leicameter MR arbeitet zwar mit dem engen Meßwinkel des 90 mm-Objektivs und läßt recht zielgenaues Messen zu, wenn der Fotograf mit Hilfe des Bildfeldwählers und dem 90er-Bildausschnitt den bildwichtigen Teil seines Motivs anvisiert.
Wenn Belichtungsmessung, dann TTL und selektiv
Kein Wunder, daß sich die Leitz-Techniker, allen voran Entwicklungschef Dieter Schaefer, mit einem herkömmlichen Einbau-Belichtungsmesser nicht mehr zufrieden gaben. Es mußte nach Leitzscher Philosophie schon etwas Besonderes sein. Eine Selektivmessung durchs Objektiv nach dem Vorbild der Leicaflex befriedigte den hohen Anspruch, für dessen Realisierung ganz tief in die Trickkiste gegriffen werden mußte: Clou der integrierten Selektivmessung bei der M 5 von 1971 ist die schwenkbare CdS-Meßzelle. Sie klappt beim Verschlußaufzug in den Strahlengang kurz vor das Gummituch-Rollo und mißt das durchs Objektiv einfallende Licht.
Im Moment des Auslösens gibt sie dann den Strahlengang für die Belichtung blitzschnell frei. Auch beim Objektivwechsel verschwindet das empfindliche Teil. Der Belichtungsmesser beanspruchte Platz, ein neues Gehäuse mußte für die M 5 her, das größer und schwerer war als das klassische M-Kleid. Darunter litt auch ein wenig die Schönheit der M 5, den begradigten Formen fehlte der Pfiff der zeitlos modernen kleinen Schwester. Viele empfanden die M 5 überdies als überzüchtet.
Der ohnehin schon komplizierte Meßsucher, bestehend aus rund 120Teilen, bekam noch eine Verschlußzeitenanzeige und ein Drehspuleninstrument mit Meßnadel für den Belichtungsabgleich verpaßt.
Auch für die Rotstiftjongleure der neuen Schweizer Wild-Konzernmutter geriet die M 5 wegen hoher Produktionskosten zum Ärgernis. Das ungeliebte Kind mußte schon 1975, nach vier Jahren Produktionszeit sterben. Zum großen Bedauern der Fotografen und zur großen Freude der Sammler, für die sich eine M 5 zur lukrativen Kapitalanlage entwickelte.
Nun brach laut Diplom-Ingenieur Schaefer "eine schlimme Durststrecke" für Techniker und Kunden des Hauses Leitz an. Die Kooperation Leitz-Minolta trug inzwischen auf einem Nebengleis erste Früchte. Als "Volks-Leica" aposthrophiert, entstand 1973 die Leica CL, zwar mit der ersehnten TTL-Belichtungsmessung im Kompaktgehäuse, doch mit kleiner Meßbasis und von geringerem Bauaufwand.
Nach den M 5-Querelen erwogen die Leitzianer sogar eine elektronisch gesteuerte M-Leica mit platzsparenden Metall-Lamellen statt Tuchschlitzverschluß. Doch der Entwurf kam über das Prototypenstadium nicht hinaus und wurde schnell eingedenk der guten alten mechanischen M-Tradition wieder verworfen. Der Verschluß war schlicht zu laut. Die Leitzianer mußten weiter auf der Durststrecke wandeln bis zur M6 1984.
Die unverrückbaren Prioritäten waren aufgrund schmerzlicher Erfahrungen im Hause Leitz nun eindeutig definiert. Entwicklungschef Schaefer: " Das M-Gehäuse mußte bleiben. Wir mußten so lange warten, bis unsere Elektronikzulieferer Bausteine anbieten konnten, die klein genug sind, um in das bis an den Rand mit Mechanik vollgepackte M-Gehäuse hineinzupassen. "
"Raum ist in der kleinsten Hütte"
Etwa 1980 begann das Projekt M6. Die Leitz-Techniker stöberten nun jedes bißchen Freiraum inmitten des M-Mechanikdschungels auf und versuchten, das Notwendigste für die integrierte TTL-Belichtungsmessung nach der Selektivmethode unterzubringen. Dabei kam ihnen zufällig eine Modifikation zustatten, die das Modell M4-2 schon 1977 erhielt. Bei diesem Modell opferte man nämlich den Selbstauslöser. "Weil er Kosten verursacht und weil ihn eh' keiner braucht" (Schaefer). Raum für die beiden Silberoxid-Knopfzellen zur Stromversorgung war damit geschaffen.
Die Filmempfindlichkeits-Einstellung wanderte von der Deckkappe (M 5) auf die klappbare Kamerarückwand, wodurch keine zusätzlichen Platzprobleme entstehen.
Kernstück der Belichtungsmesser-Elektronik ist ein moderner Hybrid-Baustein in C-MOS-Technik. Ursprünglich von Amerikanern entwickelt, beliefert jetzt eine Nürnberger Firma Leitz mit diesem kleinen elektronischen Wunder. Es vereinigt auf einer Fläche von zweimal 12,7x16,9 mm sechs Operationsverstärker, neun Transistoren, 37 Widerstände und drei Kondensatoren. Als Trägermaterial fungiert eine hauchdünne flexible Leiterplatte. Sie schmiegt sich exakt den Konturen des Gehäuses an und ermöglicht so erst die Unterbringung des Meßsystems. Die richtige Belichtung ermittelt der Fotograf per Abgleich über eine mit Zeit und Blende gekuppelte LED-Lichtwaage.
Spätestens beim Objektivwechsel stößt der M6-Benutzer auf einen weißen Meßfleck auf der Oberfläche des Gummituchverschlusses. Dieser reflektiert das einfallende Licht auf eine Siliziummeßzelle. Jene bündelt es mit Hilfe einer Sammellinse. Die Zelle befindet sich oben in einer Ecke hinter dem Bajonett. Schaefer: " Der einzige freie Platz für den Empfänger".
Die aufwendige und empfindliche Schwenkzellen-Mimik der M 5 hat somit ausgedient. Das Meßsystem wird über den Auslöser aktiviert, der Fotograf braucht es nicht erst separat einzuschalten.
Die Leitz-Manager setzten inzwischen voll auf die mit so vielen Geburtswehen behaftete M6. Foto Marketing-Chef Wolfgang Müller: "Unser Paradepferd". Sie wird wieder wie ihre Ahnen M2 und M3 im Wetzlarer Stammwerk produziert. Einige Zulieferteile kommen freilich noch aus Midland, Kanada, wohin es ausgerechnet das Symbol deutscher Kameratechnik 1977 verschlug.
M6 - Am Ziel der Wünsche
Kunden und Techniker von Leitz sind mit der M6 am Ziel ihrer Wünsche angelangt, der langgehegte Traum ging in Erfüllung. Die Auftragsbücher in Wetzlar sind voll, Lieferzeiten bei der M6 die Regel. Wolfgang Müller sieht es so: "Die M6 hat dem Meßsucherprinzip zu einer Renaissance verholfen." Sicher hat sie auch dazu beigetragen, den alten Streit zwischen Spiegelreflex- und Meßsucheranhängern zu schlichten. Komplizierte Bedienung kann man der M6 wahrlich nicht mehr vorwerfen. Die Meßsucherkamera spielt auch eine Rolle als didaktisches Hilfsmittel für Fotografenlehrlinge. Ihr Sucherbild beschönigt nicht wie das der Spiegelreflex. Die Selektion des Bildinhalts wird dem Fotografen überlassen der dadurch sein Auge schult. Freuen wir uns also, daß die M-Leica in Wetzlar weiter gepflegt wird. Sie ist ein schönes Stück moderne Tradition, seit über 30 Jahren im Dienste der Fotografie.
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