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Artikel

1998

Beratung

Was taugt eine 400 DM-Ausrüstung?

Viel Fotografierspaß für wenig Geld?

Das Praktica-Komplett-Set

Argumente dafür...

Ideal für Schüler mit geringem Budget, die das fotografieren von Grund auf erlernen wollen. Der Zusammenhang zwischen Zeit und Blende wird hier in der Praxis genauso geübt, wie die Wahl der richtigen Brennweite. Geschick im Umgang mit der Kamera wird gefördert.

die optische Leistung liegt auf dem Niveau weit teurerer Ausrüstungen.

umfangreiches Systemzubehör ist lieferbar, beispielsweise für die Makrofotografie.

eine sehr gute Bedienungsanleitung und andere kostenlose Praktica-Broschüren vermitteln theoretischen Beistand.

... und dagegen

technisch veraltete Lösungen wie Arbeitsblendenmessung dunkles Sucherbild und Fehlen einer Belichtungsautomatik steigern nach einiger Zeit den Wunsch, auf ein fortschrittlicheres Kamerasystem zu wechseln.

geringer Wiederverkaufswert

Vierhundert Mark für eine komplette Spiegelreflexausrüstung mit Tele- und Weitwinkelobjektiv? Wer wundert sich da nicht, bekommt man doch für diesen Betrag gerade eine Autofokus-Kompaktkamera mit allen Finessen. Was taugt dieses Praktica-Billig-Angebot, für das man bei renommierten japanischen Herstellern mehr als das Doppelte bezahlen muß?

Eine repräsentative AF-Kompaktkamera eines japanischen Markenherstellers wiegt rund dreihundert Gramm und kostet 400 Mark. Das Praktica Spiegelreflex-Set, vom Anbieter nicht ohne Grund als Komplett-Set angepriesen, wiegt 1300 Gramm und kostet das gleiche Geld. So verschieden können die Relationen auf dem Fotomarkt ausfallen. Geflügelte Worte drängen sich bei diesem ungleichen Vergleich auf: Masse statt Klasse und Quantität statt Qualität. "Das vollkommene Fotovergnügen komplett im Koffer" - so der Werbeslogan schien auf den ersten Blick traditionelle Wertvorstellungen zu sprengen. Eintausend Mark galten bislang als Preismaßstab für eine konventionelle Kameraausrüstung. Gemeint sind Kamera plus Standardobjektiv plus 28erWeitwinkel plus 135er Tele, dies alles wohlsortiert im Koffer und einen Film zum Start ins Fotovergnügen gibt's obendrauf.
Aber das Ganze schon für weniger als die Hälfte? Kopf schütteln und Skepsis machte sich unter den Redaktionsmitgliedern breit, die meinen Vorschlag sich des Billigangebotes einmal anzunehmen, süffisant belächelten. Schwebten sie doch allesamt in High Tec Sphären voller Erwartung auf die neue Canon Autofokus-Kamera. Offenbar verdrängten viele dabei ihre eigene Fotografier-Vergangenheit. Denn nicht wenige unter ihnen starteten einst, als Schüler mit der Schraub-Praktica, die damals noch nicht wie diese auf den Namen Super TL 1000 hörte, sondern Nova oder LTL hieß. Das glückliche Gefühl, ungeheuer viel für sein gutes Geld erworben zu haben, verließ mich auch nach dem Auspacken das schlicht weißen Kartons nicht. Eine braune Kunstledertasche kam zum Vorschein, nicht mehr ganz en Vogue, doch dafür mit soliden Nähten und einem kräftigen Schloß versehen. Innen mit rotem Samt ausgeschlagen beherbergte die Tasche eine komplette Fotoausrüstung, jedes Fach wohlausgefüllt: Die Kamera Super TL 1000 mit Tessar 2,8/50 mm Carl Zeiss Jena, das Beroflex 2,8/28 mm und das Beroflex 2,8/135 mm, beide made in Japan. Nicht zu vergessen, der Orwo UT 21 Diafilm inklusive Entwicklungsbeutel. Das Ganze stand nun - so zum Fotografieren herausfordernd auf meinem Schreibtisch daß mir derart provoziert - nichts anderes übrigblieb als sie sofort auszuprobieren. Ein bißchen fühlte ich mich in meine Jugendzeit versetzt.
Wie auf meinen Fotoexkursionen per Fahrrad, nach der Schule, die Spiegelreflexausrüstung als ständiger Begleiter. Nur hatte ich diesmal das Fahrrad mit dem Auto vertauscht und den Schwarzweißfilm mit einem Diafilm. Den mitgelieferten Orwochrome verschmähte ich allerdings und nahm E6-Kompatibles. Der Qualität und der schnellen Resultate wegen. Was nun folgte, war Basisarbeit mit dem 400 Mark Werkzeug. Von dem vierlinsigen Tessar liest man seit Jahrzehnten nur Gutes und die Naheinstellgrenze von immerhin 35 Zentimetern verspricht Allround-Tauglichkeit. Voller Zuversicht blickte ich durch den Sucher und meine anfängliche Euphorie, wieder zu den Wurzeln der Kleinbildreflex-Fotografie zurückgekehrt zu sein, bekam einen deutlichen Dämpfer.
Das Sucherbild ist recht trüb was insbesondere Brillenträger wegen des größeren Betrachtungsabstandes deutlich zu spüren bekommen. Die grobkörnige Mattscheibe in Verbindung mit der Objektivausgangsöffnung von 1:2,8 dürfte dafür verantwortlich sein. Die teure Schwester Praktica MTL 5 B bietet da schon erfreulicheren Durchblick.
"Doch was soll's, aber der Preis", höre ich mich in Gedanken sagen.
Gewöhnungsbedürftig ist sie die Praktica Super TL 1000. Verschlußaufzug und Auslösung funktionieren etwas ruppig. Der Auslöser sitzt an ungewohnter Stelle und benötigt viel Kraft im Zeigefinger bis das recht laute Auslösegeräusch ertönt. Die Verschlußzeit wähle ich vor und die Blende führe ich nach. Das erscheint mir sinnvoller. Die linke Hand greift dann automatisch vom Blenden- und Fokussierring über. Die rechte Hand drückt inzwischen die Meßtaste, die das Sucherbild je nach eingestellter Blende noch weiter abdunkelt. Wenn der Zeiger dann in die Kerbe wandert, ist das Ziel erreicht. Von Bedienungskomfort kann keine Rede sein, dafür zeigt der Sucher die Schußbereitschaft an.

FOKUSSIEREN NICHT IMMER LEICHT

Oft bin ich nicht schnell genug, ein Motiv wartet nicht immer. Doch mit ein bißchen Übung geht es nach ein paar Stunden schon besser. Wenn nicht das diffuse Sucherbild schnelles Fokussieren oftmals vereiteln würde. Der Objektivwechsel geht mit etwas Gefühl erstaunlich schnell, leise und reibungslos vonstatten. Man darf sich nur nicht scheuen, fest anzuziehen, sonst kann es passieren, daß sich beim Verdrehen des Blendenrings (Abblenden) das Objektiv lockert. Das 135-Tele sorgte übrigens für eine kleine Überraschung. Das trübe Sucherbild klärte sich trotz gleicher Lichtstärke etwas auf.
Echte 1:4 versprach die Gravur auf dem Entfernungsring des 28er Weitwinkels. Es erschwerte präzises Scharfstellen wegen des großen Schärfentiefenbereichs zwar nochmals, nahm dies aber aus dem gleichen Grund nicht so genau.
Ich wechselte die Objektive auf meinen Fotospaziergängen mit dem Komplett-Set so häufig, als sei das Wechselobjektiv soeben erst auf der photokina '86 als Weltneuheit vorgestellt worden und als seien Zooms ferne Utopie. Aus Spaß am Fotografieren. Den gibt es zum Set reichlich dazu und zwar gratis. Mit dem Drücken des Auslösers ist es jedenfalls beim Praktica-Komplett-Set nicht getan. Es fordert den Fotografen, als gelte es einen didaktischen Auftrag zu erfüllen.
Das Vergnügen wird nur durch den schlechten Sucher getrübt. Freilich muß man sich mit dieser Kamera erst einschießen, am Anfang gibt es quasi als Lehrgeld eine 10 prozentige Ausfallquote unscharfer oder fehlbelichteter Bilder.

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