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Artikel

2000

Kameras

Photographica

Stereofotografie um 1900

Aus heutiger Sicht ist die „Verascope" aus dem Frankreich der Jahrhundertwende sehr ungewöhnlich. Damals war sie es nicht, denn Stereokameras waren beliebt.

Um die Jahrhundertwende ist die Balgenkamera mit Mattscheibensucher für das Großformat ist das normale Aufnahmegerät. Es gibt auch schon kleine, handliche Kastenkameras als Vorläuferin der Kleinbildkamera. Doch die Vergrößerungstechnik ist kaum entwickelt. Stereobilder dagegen müssen nicht groß sein, da sie durch die Lupen des Stereoskops betrachtet werden. Was liegt also näher, als die Stereografie mit dem „kleinen" Format zu verbinden?
Die Antwort gibt die „Verascope" der Firma Richard, Paris - eine kompakte Kamera für das Filmformat 45x107 mm. Sie sieht edel aus und kann modische Einflüsse nicht verleugnen; das Gehäuse ist aus Messing, versilbert, und fühlt sich durch das Gewicht wertvoll an. Die Beschichtung ist allerdings so dünn, dass sie beim Putzen im Laufe der Zeit teilweise abgerieben wird.
Zu einer wertvollen Kamera gehören gute Objektive, und so ist die Verascope mit zwei Zeiss-Protaren (Vierlinser) ausgerüstet, in Lizenz von E. Krauss, Paris, hergestellt, mit der Brennweite 55 mm. Die Lichtstärke ist nicht angegeben; sie beträgt wahrscheinlich 1:6,3. Doch die Qualität lässt sich nicht immer ausnutzen, da die Entfernung nicht eingestellt werden kann, und auch eine Blende sucht man vergebens. Der Verschluss erlaubt die Einstellung auf„P" (permanent) und I (Momentaufnahme) an der Schraube über dem Objektiv rechts, die Belichtungszeit ist in einem gewissen Bereich vom Benutzer an dem unteren Rädchen justierbar. Es ist ein sog. „Guillotine-Verschluss": Ein gelochtes Blech gleitet an den Objektiven vorbei und gibt für kurze Zeit den Strahlengang frei. Beim Spannen des Verschlusses verhindert ein ähnliches zweites Blech, dass Licht hindurchkommt. Der Auslöser befindet sich über dem Objektiv links, wobei das Fehlen eines Drahtauslöser- oder Schlauchanschlusses verrät, dass die Kamera vor allem für Momentaufnahmen gedacht ist. Der Verschluss wird an der Schraube zwischen den Objektiven gespannt.
Die Kamera hat zwei Sucher: einen Mattscheibensucher und einen Durchsichtsucher. Der optische Sucher am Rand ist ein Ding für sich: Wenn man es überhaupt schafft, durch das kleine Loch und durch die Zerstreuungslinse zu schauen, bietet sich ein verschwommenes Bild. Solche Sucher tauchen an zeitgenössischen Kameras oft auf. Was sich der Erfinder dabei gedacht hat, bleibt vielen ein Rätsel. Ein glasloser Rahmensucher würde bessere Dienste leisten. Doch die meisten Fotografen sind es gewohnt, das Motiv auf einer Mattscheibe zu betrachten, und so hat die Verascope einen Spiegelsucher mit Mattscheibe. Er befindet sich zwischen den beiden Aufnahmeeinheiten und bietet nur ein düsteres Bild, da das Sucherobjektiv klein ist und die Mattscheibe wenig Licht durchlässt. Hinter dem Lichtschacht befindet sich ein Loch im Gehäuse, dessen Bedeutung unklar ist. Möglicherweise handelt es sich um eine Stativbefestigung. Das Filmmagazin ist für Platten der Größe 45x107 mm vorgesehen. Rollfilm gibt es zwar schon seit 1888 in der Kodak-Box, aber für andere Kameras ist er noch nicht verbreitet. Deshalb werden Platten verwendet. Damit sie nicht für jede Aufnahme einzeln eingelegt werden müssen, sorgt eine raffinierte Vorrichtung für den Plattenwechsel. Nach jeder Aufnahme wird an dem elegant geformten Handgriff eine Art Schublade aus dem Magazin gezogen und wieder hineingeschoben. Bei diesem Vorgang fällt die belichtete Platte nach unten, und eine unbelichtete ist danach in Aufnahmestellung. Eine flexible Abdeckung aus Federstahl wird dabei entrollt, um Lichteinfall zu verhindern. Beim Plattenwechsel muss man darauf achten, dass das Magazin auf dem Rücken liegt, sonst fallen die Platten durcheinander. Eine Merkscheibe mit den Zahlen 1 bis 12 sollte mit dem Daumennagel nach jedem Plattenwechsel weitergedreht werden; sonst kann es passieren, dass man wieder am Anfang anlangt und schon benutzte Platten noch einmal belichtet.
Das System ist gut erdacht und sorgt im Zeitalter der Trockenplatten für Mobilität und relativ schnelle Aufnahmefolgen. Es hat aber auch seine Tücken; die Platten können im Magazin verkanten und klemmen, und es bleibt immer eine gewisse Spannung beim Benutzer, ob der Transport auch tatsächlich funktioniert.

Sammlerpreise. Fast hundert Jahre später ist die Verascope ein interessantes Sammlerstück. Trotz ihres Alters und ihrer originellen Erscheinung ist sie heute noch erschwinglich. Auf Flohmärkten wird man sie kaum finden, eher auf Fotobörsen oder im Antik-Fotohandel. In diesen Kreisen orientiert man sich meist am amerikanischen Kamerapapst McKeown. Nach seinem hervorragenden „Price Guide to Antique and Classic Cameras" wurde die Verascope in verschiedenen Ausführungen bis in die dreißiger Jahre hergestellt, auch mit Rollfilm-Magazin, das sich für heutige Experimente natürlich eher empfiehlt als das Plattenmagazin. Nach seinen Angaben dürfte eine Kombination von Kamera und Magazin um 300 bis 400 Mark kosten. Ein Betrachtungsgerät wie das amerikanische Stereoskop der Firma Underwood & Underwood, ebenfalls aus der Zeit der Jahrhundertwende, ist für etwa 150 bis 200 Mark zu haben.

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