← Zurück
Artikel
Alexander Borell Kommentar
Neue Aktivitäten im Spiegelreflex-Bereich
Agfa und der gordische Knoten
Die Geschichte ist bekannt: ein kunstvoll geknüpfter Knoten am Wagen des Königs Gordius sollte gelöst werden, um dem Könner die Herrschaft über Asien zu ermöglichen. Generationen dröselten dran herum, bis Alexander der Große nach kurzer Überlegung erklärte, es komme überhaupt nicht darauf an, wie der Knoten gelöst werde, und ihn mit einem Schwerthieb zertrennte.
Nach dem Kriege hatte man der Firma Agfa einen mächtigen Knoten geknüpft, an dem sie von photokina zu photokina herumdröselte, ohne ihn lösen zu können, weshalb es ihr beschieden war, stets die Zweite im Wettbewerb zu sein, wenn auch hin und wieder eine bessere Zweite, als die knüpfende Erste. Nun aber, auf der photokina'80, zeigte es sich, daß man sich in den oberen Etagen in Leverkusen entschlossen hatte, es dem großen Alexander gleich zu tun und den hinderlichen Knoten einfach durchzuhauen. Man tat dies mit überraschend neuen Produkten und einer überaus klugen Strategie. Der neue Agfa-Schwarz/Weiß-Film Vario XL, der kein Silber mehr enthält, wie ein Colorfilm entwickelt wird, hervorragend abgestufte und nahezu kornlose Negative von 22-36 DIN wahlweise liefert, ist die erste befreiende Tat. Ein völlig neues Dia-Projektoren-System, über das gelegentlich noch zu berichten sein wird, weist ebenfalls neue Wege.
Geradezu aufregend neu, dem Hobby-Filmer buchstäblich in Hand und Geldbeutel gebaut, ist das Agfa-Family-Super 8 - Programm, über das ich bereits berichtet habe. Und diesmal geht es um den vierten Schritt Agfas zur Eroberung von Weltmarkt-Antellen: die neue Spiegelreflexkamera Selectronic in drei Varianten. Sprechen wir zuerst über das neue Produkt, und später erst über ihre Chancen und Motivation.
Die Agfa Selectronic 3
Die Selectronic 3, das Spitzenmodell nach 1 und 2, ist nicht nur eine Kamera mehr im Fotoladen, sie ist die Anführerin eines neuen Agfa-SLR-Systems mit eigenen Objektiven, Winder und integrierbarem Automatikblitz.
Es spielt heute für uns Verbraucher keine Rolle mehr, wo das, was wir kaufen, gebaut worden ist. Trotzdem halten wir uns an das, was auf dem Produkt steht, und auf den Selectronic-Kameras und den Objektiven steht deutlich AGFA. Das sollte uns genügen; wir wissen, an wen wir uns zu halten haben, und mir klingt noch der Satz des Pressesprechers in den Ohren: "Warum sollten wir eine eigene Kamera bauen und sie mit der Hypothek der Entwicklungskosten belasten, wenn wir sie fertig, nach unseren Wünschen modifiziert kaufen können?` Es kommt also nur darauf an, ob Agfa unsere - der Hobbyfotografen -Wünsche richtig erkannt und in den Selectronic-Kameras verwirklicht hat.
Was wünschen wir uns von einer modernen Spiegelreflexkamera?
a) Sie soll einwandfreie Bilder liefern. Gute Bilder macht bekanntlich nur der Fotograf. Einwandfreie Bilder verlangen wir von der Kamera. Dazu gehört vor allem ein scharf und kontrastreich zeichnendes Objektiv. Das Standardobjektiv Agfa Color, mehrschichtvergütet, 1,4/50 mm, hat meine Wünsche voll befriedigt. Es läßt sich auf 22 abblenden und bis auf 45 cm nah einstellen, mehr als zur Reproduktion eines Briefbogens nötig ist.
Zur Erzeugung einwandfreier Bilder gehört einwandfreie Planlage des Films, sowie einwandfreie Belichtung im Zusammenspiel von Blende und Verschlußzeit. Ich kann nicht mit elektronisch ausgemessenen Werten dienen, aber meine Aufnahmen auf Dia-Film - ich verwende für solche Prüfungen nur Diafilm, weil ich damit Fehler am deutlichsten erkenne - waren unter allen Lichtverhältnissen optimal.
Blendenkorrektur
b) Eine Korrektur der Filmempfindlichkeit (25-3200 ASA) sollte nach "+" und "-" möglich sein, um die Kamera persönlichem Geschmack anpassen zu können. Diese Korrekturmöglichkeit ist bei den Selectronics 3 und 2 vorhanden.
Meßwertspeicher
c) Bei integraler, mittenbetonten Belichtungsmessung durch das Objektiv muß man unter bestimmten Bedingungen den Meßwert festhalten, ihn speichern können. Bei der Selectronic 3 ist das über einen genau an der richtigen Stelle angebrachten Druckschalter möglich.
Mehrfachbelichtungen
d) Für die Anwendung einer Kamera über den Alltag hinaus sollten Doppel- bzw. Mehrfachbelichtungen ohne artistische Kunstfertigkeit möglich sein. Ein kleiner Hebel am Gehäuse der Selectronic 3 macht's möglich.
Abblendtaste
e) Will man die Schärfentiefe prüfen, besonders bei Nah- und Makroaufnahmen wichtig, sollte man dies ohne umständliche Manipulation können. Bei der Selectronic 3 liegt der griffige Abblendhebel genau vor dem Mittelfinger der Auslösehand.
Zeitautomatik
f) Eine ausreichende Belichtungsautomatik - die auch manuelle Einstellungen erlaubt - gehört zum Standard einer modernen Kamera. Die Selectronic 3 ist ein Zeitautomat, Blende wird also vorgewählt, und die Belichtungszeit stellt sich automatisch ein, von 8 Sekunden bis zur 1/1000. (Manuell von 4 Sekunden bis zur 1/1000!) Das ist ein Bereich, der in der Praxis durchaus genügt. Der Metallschlitzverschluß ist mit 1/60 s synchronisiert.
Sensor-Auslöser
g) Ob man Aufnahmen verwackelt, bzw. verreißt, hängt wesentlich vom Auslöser ab. Die Selectronic-Modelle haben den Agfa-Sensor-Auslöser, weltweit bekannt durch seine weiche Auslösung. Er ist umgeben von dem streng rastenden Verschlußzeiten-Rad, das in Stellung "Off" versehentliches Auslösen verhindert. Ein Gewinde neben dem Verschlußzeitenring erlaubt den Anschluß jedes handelsüblichen Drahtauslösers.
Elektronischer Selbstauslöser
h) Ein Selbstauslöser gehört zur Kamera für den Hobbyfotografen. Bei der Selectronic 3 arbeitet er elektronisch auf zwei Stufen, nach fünf oder zehn Sekunden. Vorn an der Kamera blinkt es, zuerst langsam, dann schnell, damit die ganze Familie gespannt zur Kamera guckt und jeden natürlichen Ausdruck vermeidet. Vermutlich hätte diese Kamera ohne dieses Blinkeblinke mehr gekostet, als mit.
Klares Sucherbild
i) Wir wünschen uns ein klares und deutliches Sucherbild. Beides kann man den Agfa-Kameras mit gutem Gewissen zugestehen. Fresnelscheibe, Schnittbildentfernungsmesser (horizontal) und Mikroprismenring entsprechen dem heute üblichen. Ich kann, als Brillenträger, das ganze Sucherbild gut überblicken.
Leuchtdioden
k) Informationen über das, was eine Automatikkamera macht, sollten im Sucher deutlich zu erkennen sein. Bei der Selectronic 3 werden die Verschlußzeiten über rote Leuchtdioden neben der Zeitenskala angezeigt, die leider nicht auch neben, sondern links im Sucherbild angebracht ist. Man gewöhnt sich daran; außerdem verlegt man den wichtigen Bildinhalt ja nur selten an den Bildrand. Neben den Zeiten von 8-1/1000 Sekunden leuchtet es auch Rot bei Unter- oder Überbelichtung, so daß man seine Blende entsprechend nachstellen kann. Gelegentlich hüpft das rote Leuchtpünktchen zwischen zwei Zeiten hin und her, was bedeutet, daß die Kamera eine Zwischenzeit für angebracht hält. Stellen Sie Blende und Verschluß manuell ein, leuchten zwei Dioden: die von Ihnen eingestellte Zeitdiode blinkt, die andere leuchtet konstant, so daß Sie nun frei wählen können, ob Sie manuell das gleiche Ergebnis wollen, wie es automatisch gemessen wurde, oder ob Sie ein wenig unter- oder überbelichten wollen, je nach Motiv und Filmmaterial
Herkömmliches Filmeinlegen
l) Das Filmeinlegen sollte nicht mehr Schwierigkeiten machen, als unbedingt nötig. Auch hier erfüllen die Agfa-Kameras die heutige Norm: durch Anheben der konventionell winzigen Rückspulkurbel öffnet sich die konventionelle Rückwand, der Film wird über die konventionellen Zahnrollen gezogen und in die konventionelle Aufwickelspule so eingehakt, wie wir das seit dreißig Jahren gewöhnt sind und dabei nie vergessen dürfen, an der Rückspulkurbel zu kontrollieren, ob der Film auch wirklich transportiert wird. Hier hat Agfa schon bedeutend Besseres, ja Vorbildliches geleistet, aber immerhin findet man den gleichen alten Zopf ja auch noch bei Kameras, die sich unwidersprochen "Weltspitze" nennen
Memory-Halter
m) Sehr wichtig, nicht nur für gute Aufnahmen, sondern auch für das Handgefühl, ist die Griffigkeit einer Kamera. Agfa hat auf Kunstpappe und echtes Leder verzichtet und den Selectronics eine Art von Rauhputzanstrich mitgegeben, der sich vermutlich nicht ablöst, aber bereits von spitzen Fingernägeln beeindruckt wird. Man sollte diese Kamera nicht zusammen mit einem Schlüsselbund in die Tasche stecken. Das Handgefühl - und das ist wichtig - ist angenehm.
Als zusätzliche Freundlichkeit ist ein Memory-Halter für den Abriß einer Filmpackung an der Rückwand angebracht, was für Fotografen wichtig ist, die mit verschiedenen Filmen arbeiten.
Batterieversorgung
n) Drei Batterie-Knopfzellen 1,5 Volt, in einer Halterung zusammengefaßt, sorgen bei den Modellen 2 und 3 für die Stromversorgung des Belichtungs-Meßsystems, bei dem einfachen Modell Selectronic 1 sind es nur zwei. Wenn Sie, falls ein Batteriewechsel notwendig ist, keine Münze in der Tasche haben, sind Sie aufgeschmissen; auch das ist höchst konventionell und kommt auch in anderen guten Familien vor.
Winder-Anschluß
n) Drei Batterie-Knopfzellen 1,5 Volt, in einer Halterung zusammengefaßt, sorgen bei den Modellen 2 und 3 für die Stromversorgung des Belichtungs-Meßsystems, bei dem einfachen Modell Selectronic 1 sind es nur zwei. Wenn Sie, falls ein Batteriewechsel notwendig ist, keine Münze in der Tasche haben, sind Sie aufgeschmissen; auch das ist höchst konventionell und kommt auch in anderen guten Familien vor.
Winder
In den etwas kargen Agfa-Unterlagen fand ich keinen Hinweis darauf, daß man den Winder nicht auch mit den aufladbaren NC-Akkus betreiben dürfe, was ja in der Praxis spürbar billiger ist. Meine Versuche für die ich aber keine Gewähr übernehmen kann - ergaben: 22 Filme zu je 36 Aufnahmen mit Batterien, 12 Filme mit den NC-Akkus. Ich glaube nicht, daß es viele Besitzer einer Selectronic 3 geben wird, die an einem Wochenende mehr als ein Dutzend Filme belichten, und am Montag kann man ja wieder nachladen. Vielleicht aber sollte Agfa gerade dieser Selectronic 3 noch etwas spendieren: Einen extra käuflichen, zusätzlichen Batterie-Einschub als Ersatz und Reserve, dazu ein spezielles Ladegerät mit Überladeschutz, so daß man zu Hause jederzeit einen frisch aufgeladenen Einschub bereit hat, den man, weil er ja klein ist, gut in der Tasche mitführen kann. Besonders im Winter würde dies den Betriebswert dieser Kamera zusätzlich erhöhen.
Wechselobjektive
p) Es stehen, neben dem Standardobjektiv 1,4/50, einige Agfa-Objektive in den gängigsten Brennweiten zur Verfügung: 2,8/28 mm, 2,8/35 mm, 2,8/135 mm, 3,5/200 und ein Zoom-Objektiv 35-105 mm. Klug und gut beraten war Agfa, das gängige "K"-Bajonett für die Selectronics zu wählen, was ein zusätzliches Ausweichen auf Fremdobjektive ermöglicht.
Elektronenblitz
q) Wer sich komplett ausrüsten will, wird zu seiner Selectronic den neuen Agfa-Blitz "Agfatronic 352 CS" wählen, der nicht nur mit der Kamera kuppelt, sondern der durch seinen zusätzlichen kleinen Aufhell-Blitz nach vorne und die Verschwenkbarkeit des Hauptlichtes wirklich universell - auch zu anderen Kameras verwendbar ist.
Preis- Leistungsverhältnis
r) Die Preise für die Selectronic-Kameras liegen etwa bei DM 400,-, 500,- und 600,- für das Modell 3. Ich halte dieses Preis-Leistungsverhältnis für hervorragend, wenn man berücksichtigt, was man alles an Möglichkeiten bekommt.
Und ich müßte meine deutschen Fotofreunde nicht kennen: man wird die Selectronic 3 wählen, nach dem Grundsatz "wenn schon, denn schon".
Fazit
Ich kann mir vorstellen, daß Agfa mit diesen grundvernünftigen Kameras viele Hobbyfotografen ansprechen wird. Ich kann mir vorstellen, daß manchen Leuten eine übersichtliche und einfach bedienbare Fotokamera lieber ist, als ein Angeber-Hecht im SLR-Teich, der doppelt soviel kostet und trotzdem nicht mehr kann.
Und wenn eine Zeitschrift, die sich den Kaviar auf den Buttertoast mit dem Anspruch verdient, den Verbraucher über seine DM aufzuklären, bei den Selectronic - Agfas geringschätzig auf ihren deutschen Namen und ihre Herkunft aus Japan anspielt, und sich dabei zu der Feststellung versteigt, das sei etwa so, wie wenn Mercedes dazu übergehen werde, dem Moskwitsch einen Stern auf den Kühlerzu schrauben und ihn dann als "Mercedes-qualitätsgeprüft" zu verkaufen, möchte ich feststellen:
1.) Ich nehme an, daß die Mehrzahl der Reporter und Fotografen jenes Blattes zwar keinen Moskwitsch fährt, jedoch mit japanischen Kamerasfotografiert.
2.) Nicht der auf einen Moskwitsch aufgepappte Stern ist das Grundproblem der deutschen Industrie, sondern die Notwendigkeit, eines Tages unter der gestirnten oder weißblauen Haube einen japanischen Motor laufen lassen zu müssen, weil er von diesem Inselvolk besser und billiger produziert werden kann. Wenn Mercedes oder BMW oder wer auch immer mir gegenüber als dem Kunden das vertreten, bin ich's zufrieden.
{ewl Thnhlp32.dll,THIN,SKIN.LZH;STEIMERM.BMP}