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Artikel
Erfahrungsbericht
Leica M4-P
Die zeitlose Kameratechnik
Bei der letzten photokina wurde von der Firma Leitz nicht "nur" die inzwischen reichlich bekannte Leica R4 vorgestellt. Kenner konnten sich eines Schmunzelns nicht erwehren, als die nun schon fast legendäre Reihe der M-Kameras um ein neues Modell, der M4-P bereichert wurde.
Kein anderes, noch so groß angekündigtes und gepriesenes Kamerasystem stimmte mich so nachdenklich, wie die bescheidenen und dennoch wichtigen Neuerungen an der guten alten M4 von Leitz. Welch seltsame Geschichte hat dieses Kamerasystem hinter sich! Inder gesamten Nachkriegszeit gab es kein markanteres Datum in der Kamerageschichte als das Jahr 1954, als die Leica M3 auf den Markt kam. Damals wurden die immer noch konkurrenzlosen Leicas mit Schraubfassungen durch ein neues Kamerasystem ersetzt, das gleich ein ganzes Bündel neuer, zukunftsträchtiger Ideen zusammenfaßte: Die unnachahmliche Bajonettfassung, den Vierbrennweitensucher mit Parallaxenausgleich und Bildfeldwähler und die ergonomisch optimale Kupplung zwischen Zeit- und Belichtungsmessereinstellung. Das waren damals absolute Neuheiten. Etwas später wurde ebenfalls weltweit erstmals ein Belichtungsmesser (Leicameter MC) eingeführt, dessen Meßwinkel deutlich kleiner als der Bildwinkel des normal-brennweitigen Objektives war. Leitz verstand es damals auch gut, die Vorteile dieser Art Belichtungsmessung ins rechte Licht zu rücken. Die Leica M3 wurde ein Meilenstein in der Entwicklung von Aufnahmekameras, der sich nur noch mit der Einführung der ein- und zweiäugigen Spiegelreflexkameras durch Exakta und Rollei oder mit dem Beginn der Serienfertigung der Leica 1-Modelle vergleichen läßt. Hier wurde ein Prinzip mit einem Schlag zur Vollendung geführt. Es war nicht schwer vorauszusehen, daß nur noch kleine Schritte folgen konnten, die M2 als etwas bescheidenere Schwester, die M4, deren Verfeinerungen größtenteils die Folge von notwendigen Produktionsrationalisierungen war und dann nochmals ein größerer Sprung in Form der Leica M5, die wieder viel Furore machte. Sie ist trotz der inzwischen verstrichenen 11 Jahre bis heute die letzte Vollendung einer E-Messerkamera geblieben. Sie wurde letztlich ein Opfer eines alles nivellierenden Spiegelreflexbooms, der eine Weiterentwicklung dieses unvergleichlichen Kameratyps nicht mehr rationell erscheinen ließ. Das war eine bedauerliche Entwicklung, die auf rein kommerzielle Erwägungen zurückzuführen ist. Hochwertige E-Messerkameras vom Typ der M-Modelle können wegen des enormen mechanischen Aufwandes für die Fertigung und für die Übertragung der Meßwerte vom optischen Entfernungsmesser auf die Objektive nicht billig sein. Spiegelreflexsucher mit Schwingspiegel lassen sich wesentlich preisgünstiger für Großserien herstellen. Dieser Preisvorteil schrumpft freilich, wen man die später anzuschaffenden Weitwinkelobjektive mit einkalkuliert. Diese müssen für SLR-Kameras als Retrofokussystem sehr viel aufwendiger hergestellt werden und haben auch Nachteile in der Abbildungsleistung. Als nach dem Auslaufen der M5 Mitte der 70er Jahre die gute alte M4 in leicht modifizierter Form als M4-2 wieder auf den Markt kam, schüttelten viele den Kopf. Wenn man die produktionstechnischen Zusammenhänge nicht kannte, konnte man auch den offensichtlichen Rückschritt von der M5 mit integriertem TTL-Belichtungsmeßsystem zur alten Form mit aufsetz- und kuppelbaren Belichtungsmesser nicht verstehen. Hier war ein rein wirtschaftliches Kalkül im Spiel: Die US-Streitkräfte orderten eine größere Zahl M-Kameras des älteren Typs 4, der eine Neuauflage dieses Modells erforderlich machte. Natürlich lag es nahe, die laufende Serienproduktion auch für den zivilen Markt zu nutzen. So mußten sich alle, die eine M5 oder eine noch modernere Version dieser Kamera wünschten, mit der M4-2 begnügen und das Geschäft blühte trotzdem, Wartezeiten von einem Jahr und mehr wurden der Normalfall. Die neue M4-P ist eine logische Konsequenz dieser Entwicklung, sie ist eine Leica M4-2 mit verbessertem, d. h. einen größeren Brennweitenbereich erfassenden Sucher. Wenn man die nüchternen Fakten dieser Entwicklung kennt, müßte es eigentlich schwer fallen, für diese Kamera eine Lanze zu brechen. Ich muß es dennoch tun, denn diese Kamera ist nach wie vor einmalig und wert, näher betrachtet zu werden. Fortschritt muß nicht immer die Summe dessen sein, was man heute kann und gestern sich noch kaum vorstellen konnte. Man kann sich umgekehrt auch heute darüber wundern, wie großartig präzise eine Kamera ohne jede Elektronik arbeiten kann, sich darüber freuen, daß Batterien nicht ausgehen oder auslaufen können und vor allem wie genau man die Entfernung weitgehend unabhängig vom jeweils herrschenden Lichtniveau messen kann. Es gibt noch eine Reihe anderer Vorteile, die von keiner Spiegelreflexkamera auch nur annähernd erreicht werden können: die Leichtigkeit, Geräusch- und Erschütterungsfreiheit der Auslösung, Gewichts- und Volumenvorsprung bei einer Ausrüstung mit mehreren Objektiven, vor allem im Weitwinkelbereich. Ein Vergleich lohnt sich: Man nehme drei Leica M-Weitwinkelobjektive, z. B. 35, 28 und 21 mm und setze deren Gewichtssumme in Beziehung zu irgendwelchen vergleichbaren Spiegelreflexbrennweiten. In der Regel muß mehr als das Doppelte auf die Waage gebracht werden. Die Volumina verhalten sich entsprechend. Hinzu kommt, daß bei der Konstruktion der Weitwinkelobjektive für die M-Kameras keinerlei Rücksicht auf die Schnittweite genommen werden muß. Diese Objektive können, wenn nötig, bis unmittelbar vor den Vorhang des Schlitzverschlusses reichen. Deshalb können sie nicht nur viel leichter und kleiner, sondern auch viel besser sein als jede noch so aufwendig konstruierte Retrofokuslösung. Ferner kann man diese Weitwinkelobjektive mit einer geradezu verschwenderischen Einstellreserve scharfstellen: Die Einstellschnecken lassen sich mit der gleichen Präzision fertigen wie bei langbrennweitigen Objektiven und das wird auch getan. Die Folge ist eine Präzision bei Weitwinkelaufnahmen, wie man sie bei SLR-Kameras nur erträumen kann. Wie relativ der Fortschritt ist! Die M5 wurde seinerzeit aus Kostengründen eingestellt. Die Folge davon ist, daß diese Kamera heute zu Märchenpreisen gehandelt wird, weil man ihre Vorteile nicht auf SLR-Kameras übertragen kann trotz allen technologischen Fortschrittes und elektronischen Zaubers. Bei der M4-P als Nachfolgerin der Navy-Tochter M4-2 reichte es (noch) nicht für einen Anschluß an die moderne Elektronik. So beschränkte man sich gezielt auf eine weitere Verfeinerung und Erweiterung arteigener Vorteile: in dem seinerzeit so revolutionären Meßsucher können nun 6 (1) Brennweiten automatisch oder von Hand zur Motivfindung eingespiegelt werden. Bisher waren es nur 4 und wenn man nicht kleinlich ist, sind es sogar 7 Brennweiten, weil auch das Bildfeld des 21mm-Objektives bei voller Nutzung des Sucherfeldes überblickt werden kann. Dabei darf nicht vergessen werden, daß die Bildfeldbegrenzungenfür28,35,50,75,90 und 135 mm mit dem Verriegeln des Objektives automatisch erscheinen und Verwechslungen so gut wie ausgeschlossen sind. Was bei keiner SLR-Kamera möglich ist: man kann diese Bildfeldbegrenzungen mit einem kleinen Hebel vorwählen und sich so die jeweils günstigste Brennweite ins Bild komponieren ohne mit den Objektiven manipulieren zu müssen. Das geht mit Zoomobjektiven bei SLR-Kameras auch, aber nicht in diesem Bereich und immer auf Kosten der Abbildungsqualität und/ oder Lichtstärke. Der schon genannte Gewichts- und Volumenvorteil gilt auch im Vergleich zu Varioobjektiven! Was man nicht kann, sei hier auch gesagt: Shiftobjektive lassen sich natürlich nicht verwenden und für den Makrobereich muß man einen Spiegelkasten aufsetzen, der zwar mechanisch immer noch beispielgebend ist und eine schlechthin unübertreffliche Mattscheibenheiligkeit aufweist, in seiner jetzigen Form aber ein antiquiertes Zusatzgerät geworden ist. Das Leica M-System muß man als Ganzes sehen. Dazu gehören in erster Linie die Objektive.
Weitwinkelobjektive der Spitzenklasse
Auf die Unübertrefflichkeit der Weitwinkelobjektive habe ich schon hingewiesen. Sie sind absolut konkurrenzlos - das gilt sowohl für das 21 er und 28er Elmaron und das 35er Summicron oder Summilux. Ein fast gleich großer Vorsprung ergibt sich im Bereich der Normalbrennweiten um 50 mm. Es ist kein Zufall, daß das einzige Objektiv mit der Lichtstärke 1,0 ein Leitz M-Objektiv, das Noctilux ist. Sein Vorgänger, die 1,2-Variante mit der Asphäre war noch etwas berühmter und ist heute eine kostbare Rarität geworden. Solche Lichtstärken kann man nur mit der enormen Einstellreserve des Leitz Entfernungsmessers mit 67,5 mm Meßbasis wirklich nutzen. Dazu kommt der Vorteil einer wirklich erschütterungsfreien Auslösung. Mit der neuen Leica ist auch ein neues, interessantes Objektiv angekündigt worden: Ein 1,4/75 mm Summilux. Das ist ein für diese Kamera maßgeschneidertes Objektiv für das auch die neue Bildfeldbegrenzung im Sucher geschaffen wurde. Ich hatte noch keine Gelegenheit, dieses Objektiv zu erproben. Hier muß noch die Phantasie für eine neue Dimension der Schnappschußfotografie herhalten: Man stelle sich die Availablelight-Portraitfotografie mit den neuen höchstempfindlichen Negativfilmen in Schwarzweiß und Farbe mit dieser millimetergenauen Entfernungsmessereinstellung vor, mit weichen Filmen man je nach Bedarf und Gelegenheit die Empfindlichkeit voll ausnutzen oder zur Verbesserung der Bildqualität überbelichten kann.
Der Winder ist ein technisch überholtes Kuriosum
Die M4-P hat auch einen leicht modifizierten Winder, mit dem zwei Belichtungen pro Sekunde möglich sind. Wenn man ihn benutzt, muß man sich mit einigen Ungereimtheiten abfinden. So läßt er sich beispielsweise nicht wie bei anderen Kameras an das geschlossene untere Kameragehäuse ansetzen, sondern muß anstelle des unteren Kameradeckels angebracht werden. Daher kann man ihn bei geladener Kamera nur bei völliger Dunkelheit an- oder abschließen. Das ist ein gravierender Nachteil. Wenn man ein Blitzgerät am unteren Kamerakörper mit Hilfe einer Blitzschiene anschließen will, geht das auch nur dann, wenn man das Batteriegehäuse abnimmt. Dann erst findet man das Anschlußgewinde für das Blitzgerät. Bei abgenommenem Batteriegehäuse kann der Winder aber nicht funktionieren. Um dies trotzdem zu ermöglichen, muß man das Batteriegehäuse in die Tasche stecken und den Windermotor mit dem Batteriegehäuse über ein Kabel verbinden, das antiquierte Anschlußstücke hat. Der Winder ist heute ein Kuriosum, dessen Schwächen man nur mit Nachsicht zur Kenntnis nehmen kann. Die systeminhärenten Vorteile der Leica 4-P sind aber so entscheidend, daß man solche Ungereimtheiten hinnimmt.
Die Belichtungsmessung mit dem aufsetzbaren und mit der Zeiteinstellscheibe kuppelbaren Leicameter MC entspricht auch nicht mehr dem Stand der Technik. Auch das nimmt man in Anbetracht der schon erwähnten Vorteile hin.
Wünschenswert: ein neues Belichtungsmeßsystem
Im übrigen ist diese Art von Belichtungsmesser besser als man bei einem Vergleich mit den heute üblichen Lösungen annehmen möchte. Der Meßwinkel entspricht dem Bildwinkel des 9 cm-Objektives. Wenn man das weiß und bei einem Meßprozedere berücksichtigt, kann man mit dieser Meßtechnik auch sehr genau arbeiten, weil man den Meßwinkel im Sucher kontrollieren kann. Eventuelle Ober- oder Unterbelichtungen erreicht man am besten durch abgeschätzte Meßwertkorrekturen in Abhängigkeit vom Objektkontrast und der Art des Filmes. Ich sehe keinen großen Unterschied zwischen diesem und den modernen Mehrfachbelichtungsmeßsystemen an SLR-Kameras, bei denen man bei schwierigen Objekten den Meßwert ebenfalls korrigieren muß, wenngleich dies hier mit Override-System oder ähnlichem geschieht.
Der Aktionsradius des E-Messersystem in Verbindung mit Objektiven mit verschiedenen Brennweiten ist gleich geblieben: Er reicht vom 21-mm-Weitwinkel bis zum 135-mmTele. Das ist auch heute noch eine ansehnliche Spannweite. Für die längste E-Messerbrennweite von 135 mm gibt es auch ein 2,8-Spezialobjektiv mit Suchervorsatz, der das überflüssige Bildfeld im Meßsucher abdeckt und das 9 cm-Bildfeld auf das des 135 mm-Objektives einengt. Durch diesen Vergrößerungseffekt kann man noch genauer einstellen, so daß auch bei dieser langen Brennweite eine große Einstellreserve erreicht wird.
Neuer Aufschwung für die Meßsucher-Kamera
Die Leica M4-P stellt zweifellos den bestmöglichen Kompromiß dar, der sich aus dem Konstruktionsprinzip M4 mit ihren bekannten Vorteilen erreichen läßt. Daß eine Kamerafirma mit einer Kompromißlösung so lange so gut fahren konnte, ist sicher einmalig und im wesentlichen auf zwei Gründe zurückzuführen: Den revolutionären Durchbruch der E-Messer-Kameratechnik mit der M3 im Jahre 1954 und dem technologischen Know-how bei der Fertigung hochwertiger E-Messerkameras. Die Spiegelreflexdämmerung ist längst angebrochen. Der Markt verlangt wieder hochwertige Meßsucherkameras, die nicht nur von einer großen Tradition leben. Es muß doch möglich sein, die Vorzüge von so bewährten konservativen Konstruktionsprinzipien mit den Vorteilen moderner Kameraelektronik zu verbinden. Ansätze sind schon bei der Minolta CLE als Nachfolgerin der Leica CL sichtbar. Es ist sicher kein Zufall, daß sich Minolta mit dieser Amateurversion für eine neue E-Messer-Kleinbildkamera beschäftigt hat. Alle Zeichen deuten darauf hin, daß auch bei Leitz eine würdige Nachfolgerin der M4- und M5-Serie im Entstehen ist. Die Möglichkeiten einer solchen, auf den neuesten technologischen Stand gebrachten Kamera sind sehr vielversprechend. Ideal wäre zweifellos wieder eine E-Messerkamera als Basis für die Erweiterung zu einem Spiegelreflexsystem mit einem integrierbaren Spiegelkasten. Dabei müßten sich die früheren Nachteile relativ leicht vermeiden lassen. Die größte Schwierigkeit dürfte die Entwicklung eines Belichtungsmeßsystems sein, das sowohl in der E-Messer- als auch in der SLR-Version weitgehend einsatzfähig bleibt. Für die Lösung dieses Problems sind verschiedene Ansätze denkbar und möglich. Bekannt und von Minolta bereits realisiert ist die Messung der Reflexion des Schlitzverschlusses bzw. der Filmoberfläche. Dies kann mit oder ohne Spiegel im Strahlengang des Objektives geschehen. Aber auch Selektivmessungen sind mit Hilfe von kleinen Ersatzspiegeln in beiden Fällen denkbar. Das sind alles dankbare Gebiete für die Neuanmeldung von Schutzrechtsansprüchen. Hier hätte Leitz wieder einmal die Chance, für lange Zeit eine absolute Führungsposition einzunehmen. Ziemlich sicher scheint schon jetzt zu sein, daß eine M6 - wann immer sie kommen mag - eine ähnliche Wirkung auf den Kameramarkt ausüben würde wie vor 27 Jahren die Leica M3. Die Zeit ist mehr als reif für eine solche einschneidende Zäsur, weil die Entwicklungsmöglichkeiten der klassischen Spiegelreflexkameras ausgereizt sind.
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