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Artikel
2003
KAMERAS PHOTOGRAPHICA
KOMPAKTE KODAK
UND ZWEI KONKURENTINNEN
Vest Pocket Kodak - Westentaschen-Kodak also - heißt die amerikanische Urahnin der Kompaktkameras. Und das ist nicht übertrieben. Zusammengeschoben nur 2,5 cm dick, ist sie kleiner als manche moderne Kompakte - trotz dreimal so großer Negative.
Die Angabe „4x6 1/2" für das Seitenverhältnis der „Vest Pocket"-Negative mutet erst einmal etwas merkwürdig an; exakt aber ist es 42x 63 mm - ein Verhältnis, das dem des Kleinbildformates entspricht. Vor allem der so genannte 127er Film ermöglicht das kompakte Format der Kamera. Er wirkt wie eine verkleinerte Ausgabe des heute üblichen Mittelformat-Rollfilms, ist 47 mm breit, und die Rolle für acht Bilder hat aufgrund des sehr dünnen Spulenkerns nur 18,5 mm Durchmesser. Der Film ist mit einem lichtdichten Schutzpapier hinterlegt und braucht daher keine Kassette. Dieses Format kam bald nach 1900 auf, und Kodak u. a. lieferte bis in die achtziger Jahre die Filme. Die Zahl 127 beinhaltet übrigens keine technischen Angaben, sondern ist eine Art Herstellercode, der hellen sollte, in der einst verwirrenden Vielfalt ähnlicher Filmgrüßen Ordnung zu schatten. Die Objektivplatte wird nur durch Scherenspreizen gehalten und lässt sich ohne Entriegelung bis zum Einrasten herausziehen. Der Zentralverschluss erlaubt Belichtungszeiten von 1/25 und 1/50 Sekunde sowie B und T. „Ball bearing" steht drauf; der Ring, der im Innern die Verschlusslamellen betätigt, ist also kugelgelagert. Die Blende ist eine richtige Irisblende mit Stahllamellen, sie wird, ebenso wie die Belichtungszeiten, an einem winzigen Häkchen eingestellt. Der kleine Brillantsucher, der nach dein Spiegelreflexprinzip funktioniert, aber anstatt einer Mattscheibe eine Sammellinse aufweist, ist für Hoch- und Querformataufnahmen drehbar. Zum Hineinlegen wird an einer der Schmalseiten der Gehäuseboden abgenommen, die Filmlasche muss außerhalb der Kamera in die Aufwickelspule gefädelt werden, worauf man das Ganze dann in die Kamera schiebt. Damit man auch im Hochformat Langzeitaufnahmen ohne Stativ machen kann, befindet sich an der Objektivplatte ein ausklappbarer Fuß - ganz im Stil der Zeit. Eine Spezialität ist das „Autographic"-System. An der Rückwand kann man eine Klappe öffnen und das Schutzpapier des Films mit Notizen zur Aufnahme versehen. Die Aufschrift „Use Autographie Film A 127" deutet darauf hin, dass Kodak besonders dafür geeignete Filme herstellte. Kameras mit dieser Möglichkeit haben auch eine Halterung für einen Griffel. Wie hei amerikanischen Kameras üblich, ist die Vest Pocket reichlich beschriftet, unter anderem mit den Daten der zugrunde liegenden Patente (1902-1913). Die Kamera kam 1912 auf den Markt und war bis 1927 im Handel. Mehrere Ausstattungen wurden angeboten, am häufigsten die einfache Ausführung mit zweilinsigem Objektiv. In einem Katalog aus dem Jahre 1927 beginnen die Preise für die Vest Pocket bei 28 Schweizer Franken. Das hier gezeigte Modell besitzt einen vierlinsigen Kodak-Anastigmat mit Lichtstärke 1:6,9, der seine Stärken jedoch kaum ausspielen kann, da es keine Filmandruckplatte gibt, der Film also nicht ganz plan liegt, und keine Entfernungseinstellung möglich ist. Eine Kuriosität ist die reliefartige Beschriftung der Objektivplatte Vor allem die Empfehlungen zur Blendeneinstellung sind merkwürdig. Dass für Meeresblick (marine view) Blende 16 empfohlen wird, mag angehen, aber dass bewegte Objekte mit Blende 8 aufzunehmen sind, entbehrt jeder Logik. Attraktiv ist das Design der Objektivplatte in jedem Fall, und Nostalgie-Liebhaberinnen dürften ihre Freude daran haben. Das kleine Messingschild oben am Gehäuse ist eine Händlermarke aus London.
Konkurrenzprodukte
Die 1922 erschienene Rolf I von Ernemann, Dresden, ist nur wenig größer als die Vest Pocket. Auch sie ist für den 127er Rollfilm gemacht. Hier verbirgt sich das Objektiv bei geschlossener Kamera hinter der Frontklappe. Diese wird zur Aufnahme bis zum Einrasten heruntergeklappt, dann wird die Objektivstandarte auf den Schienen der Klappe herausgezogen - wie bei einer großen Laufbodenkamera, nur umständlicher als bei der Kodak, aber dafür ist die Konstruktion stabiler und verfügt sogar über Stativgewinde. Das zweilinsige Objektiv der Lichtstärke 12 und nur eine Belichtungszeit sind zwar nicht üppig, aber immerhin gibt es eine Entfernungseinstellung und eine Filmandruckplatte. Insofern ist die Rolf konsequenter als die Vest Pocket.
Die Rigona von Balda, gebaut zwischen 1926 und 1942, ist noch fortschrittlicher. Hier wird das Objektiv beim Öffnen der Frontklappe automatisch in die Aufnahmeposition gebracht. Diese Konstruktion setzte sich in den dreißiger Jahren bei Amateurkameras durch, allerdings braucht das Ganze wieder mehr Platz. Die Größe der Kamera mag täuschen; sie ist nur für das Format 3x4 cm vorgesehen. Heute sind diese Apparate schöne Stücke für die Vitrine - oder das, wofür sie schon damals von den meisten Fotografen gehalten wurden: schöne Spielzeuge. Dann das Filmformat galt als zu klein für ernsthaftes Arbeiten. Wer ein solches Stück erwerben möchte, der kann auch auf Flohmärkten und Fotobörsen fündig werden.
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