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Artikel
2004
Der Alexander-Borell-Kommentar:
Die Mamiya M645 (4,5 x 6cm)
Man kann über Details dieser neuen Kamera nicht sprechen, ohne das Format besonders erwähnt zu haben. Außer Polyphem, dem sagenhaften Riesen der griechischen Mythologie, hat kein Mensch nur ein Auge auf der Stirn. Dieses eine Auge aber würde, wie jedes Objektiv, eine Kreisfläche auszeichnen, in die am besten ein Quadrat hineinpasst. Zweiäugige Normalmenschen sehen eine liegende Ellipse, in die wiederum am besten ein liegendes Rechteck passt. Bücher und Zeitschriften sind von jeher überwiegend hoch oder quer angelegt, folglich auch die Bilder darin, und früher gab es tatsächlich fotografische Formate auch nur im Rechteck. Erst durch die Erfindung der zweiäugigen Rollei, bei der ursprünglich und ohne Prisma, Aufnahmen nur in einer bestimmten Kamerahaltung möglich waren, entstand das Quadrat 6x6 auf dem Rollfilm für 6x9. Solchen kameraseitigen Zufälligkeiten verdanken wir auch das Format 24x36, ästhetisch eine Unmöglichkeit und zu nichts richtig passend. Seit es das 6x6 Format gibt, gibt es auch die müßige Streitfrage, was besser sei: Rechteck oder Quadrat, und es ist natürlich, dass 6x6-Fabrikanten versuchten, aus ihrer Not eine allgemeine Tugend zu machen mit der Behauptung, in 6x6 sei ja auch ein Rechteck hoch oder quer enthalten. Der dadurch entstehende Abfall wurde nicht erwähnt. Und seit es das Quadrat gibt, verstummte nie der Wunsch nach dem Rechteck als Ausgangsformat: Alle professionellen Großformatkameras verwenden das Rechteck, um das volle Format zur Bildgestaltung nützen zu können. Mamiya und Linhof versuchten es mit dem Rechteck 6x7, zum Teil mit großem Erfolg. Aber immer wieder ging das Murren durch die Reihen der Profis und Amateure: warum gibt es das wundervolle 4,5x6 nicht mehr? Es war doch das eigentlich ideale Format: immer noch handlich wie Kleinbild, aber technisch entsprechend leistungsfähiger. Ich weiß, dass seit vielen Jahren Entwürfe, teilweise sogar Prototypen von 4,5x6-Kameras in Schreibtischen oder Tresoren ruhen, weil niemand die Traute hatte, damit auf den Markt zu kommen.
Mamiya hat es, in absoluter Konsequenz zur bekannten RB 67, gewagt, mit einer völlig neuen Kamera 4,5x6 auf den Markt zu kommen. Ich habe bisher noch selten einen Kommentar mit solchem Vergnügen geschrieben, wie diesen zur Mamiya M 645!
Bei Mamiya ging man aber noch einen Schritt weiter in der gleichen Richtung, wie ich sie in diesem Heft unter dem Titel „Götterdämmerung" erklärte: man hatte den Mut, mir direkt aus Japan einen Prototyp der M 645 zur Erprobung und zur Kritik zu überlassen, ich konnte volle vierzehn Tage damit fotografieren. Ich hatte den Namen „Mamiya" auf dem Sucherprisma schwarz überklebt, wurde aber öfters angesprochen, ob dies eine neue Hasselblad sei. Tatsächlich ist sie nicht größer, schon gar nicht mit Sucherprisma.
Als erstes taucht die Frage nach Magazinen auf: die M 645 hat keine und - braucht keine. Man kann Filmeinsätze vorladen und sie blitzschnell auswechseln, wobei sich nach Belieben solche Einsätze für 15 Aufnahmen auf 120er oder 30 Aufnahmen auf 220er Rollen einsetzen lassen, ohne dass man irgendetwas umstellen müsste. Ein Filmhalter dürfte etwa den zehnten Teil eines Magazins üblicher Art kosten.
Auf der rechten Kameraseite befindet sich nach bewährtem Muster der Filmtransportknopf mit Kurbel: ein Schwung um 180xGradx bis zum Anschlag genügt. Das Zählwerk (links oben) zählt automatisch bis 15 oder 30, je nach Film, ein kleiner Knopf dient zum Testen der Batterie, und rechts oben und rechts unten an der Vorderseite befinden sich die beiden Auslöser, die man sich, je nach Kamerahaltung, aussuchen und natürlich auch verriegeln kann. Mit dem kleinen Hebel rechts unten wird der Spiegel vor der Aufnahme auf Wunsch hochgeklappt und die Blende auf die vorgewählte Zahl geschlossen, der Hebel links unten ermöglicht Mehrfachbelichtungen mit absoluter Deckungsgleichheit. Auf der linken Kameraseite sind Blitzkontakte für Kabel und das Einstellrad für die Belichtungszeiten. Diese werden elektronisch von 8 sek. bis zur 1/500 sek. gesteuert, außerdem „B"-Stellung und „T" bei Verwendung des TTL-Mess-Prismas, das kreuzweise mit Blende und Verschluss gekuppelt ist: sieben Leuchtdioden zeigen die Messung an (!!) (das TTL-Prisma stand mir noch nicht zur Verfügung, nach den Abbildungen aber ist es kaum größer als das normale Prisma). Es gibt, um das zu erwähnen, natürlich auch einen Lichtschachtsucher, zur Normalausrüstung gehört jedoch das Prisma, damit man bei Hochformataufnahmen keine Schwierigkeiten hat.
Alles an dieser Kamera ist sinnvoll und macht dem Techniker Freude. So z. B. auch der Rück-
Wandverschluss. Erst, wenn man absichtlich auf die Platte der Film-Merkvorrichtung drückt, lässt sich die Rückwand entriegeln. Der Knopf am Prisma dient zum Auswechseln gegen ein anderes Suchersystem. Natürlich kann man auch die Mattscheiben mit einem Griff ohne Werkzeug wechseln. Es stehen mehrere Ausführungen zur Verfügung. Außerdem sehen Sie auf diesem Foto rechts den Batterie-Testknopf, gegenüber links das Leuchtzeichen für die Batterie, hinten die Kontakte für den „heißen Schuh" im Prisma, und vorne am Objektiv die Kupplungskabel für das TTL-Prisma (von Nikon abgeschaut und die einzige unelegante Lösung eines Problems an dieser sonst technisch so erfreulich modernen Kamera!). Die Objektive werden in einem normalen Bajonett gehalten. Den roten Knopf zur Deckung beim Einsetzen kennt man von Leitz. Das Arbeiten mit dieser Kamera ist ein reines Vergnügen, weil sie nicht nur überaus sauber und präzise gearbeitet ist und hierin keiner mir bekannten Kamera der Weltspitzenklasse nachsteht, sondern weil auch die Geräusche des senkrecht ablaufenden Schlitzverschlusses sowie der Spiegelschlag nicht nur leise erfolgen, sondern darüber hinaus der Spiegelschlag nicht spürbar ist. Mit der Blitzsynchronisation bei 1/60 sek. muss man sich abfinden, man hat zugunsten von Schlagfreiheit und Geräusch auf höhere Geschwindigkeit verzichtet. Mit Sicherheit wird es eines Tages auch ein Blitz-Objektiv mit Zentralverschluss geben. Die Kamera wird mit dem Standard-Objektiv 2,8/80 mm im späten Herbst hier lieferbar sein. Im Januar 76 folgen die Brennweiten 2,8/45 mm, 2,8/55 mm,
4/150 mm und 4/210 mm. Das Zentralverschluss-Objektiv 2,8/70 mm ist für Frühjahr 76 geplant, weitere Objektive, die es zur M 645 geben wird, sind: 3,5/35 mm, 2,8/110 mm, 5,6/300 mm, 5,6/500 mm, 4,5/100 mm macro. Aus dieser Reihe wird ersichtlich, welchen Markt sich die M 645 erobern soll: jeden Markt, vom interessierten Amateur bis zum ebenso interessierten Profi. Über die Qualität der einzelnen Objektive wird eines Tages ein Labortest befinden müssen. Ich kenne aber die hohe Qualität der RB 67-Objektive, und was ich von diesem 2,8/80 mm in der M 645 gesehen habe, war überzeugend. Ein weiteres Argument für diese Kamera möchte ich Ihnen auch nicht vorenthalten: Mein Freund und Kollege Fritz Meisnitzer, für den jede Kamera nur ein Werkzeug ist und der manche Kameras, die mir technisch gefallen, nicht einmal anfasst, nahm die M 645 in die Hand, untersuchte sie lange und schweigend, um anschließend zu sagen, sie sei eine der am saubersten gearbeiteten Kameras, die er jemals gesehen habe und - anschließend fotografierte er damit.. Wie ich anfangs schon betonte, war es für Mamiya ein gewisses Risiko, mir vorab einen Prototyp dieser neuen Kamera zu schicken: ich hatte auch einiges daran auszusetzen. Inzwischen aber wird in Japan als Großtest schon die so genannte 0-Serie verkauft, in der meine Wünsche bereits berücksichtigt sind. Ich würde Ihnen trotzdem raten, sich jetzt nicht auf obskuren Wegen eine M 645 aus Japan selber zu importieren: warten Sie lieber, bis Sie hier das wirklich bis zum Letzten ausgereifte Modell kaufen können. Kaufen ist das „Stichwort" für den Preis dieser Kamera. Er wird nach allem, was ich bisher erfahren konnte, überraschend günstig liegen. Komplett mit Prisma und 2,8/80 mm Objektiv wenig über die Hälfte ihrer einzigen vergleichbaren Konkurrenz, der Hasselblad. Und für die einzelnen Objektive werden Sie kaum mehr bezahlen müssen als qualitativ vergleichbare Kleinbildobjektive kosten würden. Wenn ich an dieser Stelle eine Prophezeiung wagen will, würde ich sagen: diese M 645 wird einer der größten Kamera-Erfolge nach dem Kriege, und Mamiya wird lange Zeit nicht die Stückzahlen liefern können, die zu verkaufen sein werden. Denn auch in der Fotobranche herrscht die Regel: Wer Ideen hat und den nötigen Mut, der hat auch Erfolg.
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