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Spiegelreflex-Praktikum

Rollei SLX

Prototyp einer neuen Generation

Auf vielen Gebieten der Technik ist der Schritt von der Mechanik zur Elektronik bereits irreversibel vollzogen. In der Konstruktion fotografischen Geräte dagegen und insbesondere im Kamerabau, der gerade prädestiniert ist für Fortschritt durch Elektronik, hat man bislang von diesen modernen Möglichkeiten wenig Gebrauch gemacht: Man schuf elektronisch gesteuerte Entwicklungsanlagen für Großlabors; man schuf elektronisch geschaltete Computerblitzgeräte und manch anderes mehr - gewiß. Bei Kameras aber baute man allenfalls ein elektronisches Zeitmeßglied in einen ansonsten mechanischen Verschluß. So darf es wohl als eine der wenigen, echten Sensationen fotografischen Fortschritts gelten, daß Rollei am 22. März 1973 auf der Pressekonferenz in Singapur den Prototyp einer Kamera vorstellte, die mit Fug und Recht als vollelektronisch gelten darf. Und Dr. Peesel, Chef der Rollei-Gruppe, ließ es sich nicht nehmen, diesen Prototyp strahlend den versammelten Foto-Fachjournalisten aus aller Welt entgegenzuhalten - die Rollei SLX, die nach all ihren bekanntgegebenen Eigenschaften wohl geeignet ist, Foto-Geschichte zu machen.
Bei einer Kamerakonstruktion dieser Art ist es schwer, ganz sachlich zu berichten - zu verlockend sind die neuen Möglichkeiten, die sie in Aussicht stellt, und die die Fotografie bisher nicht hatte. Versuchen wir es also zunächst mit einer nüchternen Aufzählung der technischen Daten:
Die Rollei SLX - wie sie zunächst als Prototyp heißt - ist eine sehr handlich wirkende, einäugige Spiegelreflexkamera für das 6x6 Format, eingerichtet für Rollfilm 120 und 220 und vorbereitet für den Anschluß einer Kassette für 70 mm Film. Nach Vorwahl der Belichtungszeit im Bereich von 1/500-30 Sekunden, wobei längere Zeiten konstruktiv durchaus noch möglich wären, belichtet und transportiert sie den Film vollautomatisch. Dabei bewegen sich nur ganz wenige Teile: Der Spiegel klappt weg und kehrt nach der Belichtung zurück, die Lamellen von Blende und Verschluß gehen auf und zu, und natürlich - der Film wird von Belichtung zu Belichtung bewegt. Die Mehrzahl der mechanischen Teile und ihrer Funktionen, wie eine konventionelle Kamera sie für solche Bewegungen benötigen würde, sind durch elektronische Bauteile und entsprechende Steuervorgänge ersetzt. Diese und alle übrigen Kamerafunktionen berechnet und steuert ein Prozeßrechner mit einer integrierten Schaltung von rund 500 Transistorfunktionen. Der Prozeßrechner mißt und berechnet die Belichtung während des Auslösevorganges. Wie das in seinen einzelnen Phasen geschieht, gab Rollei nicht bekannt. Aber eine Vermutung liegt nahe: Hochempfindliche Silicium-Zellen, auf bildwichtige Meßzonen verteilt, messen durch das Objektiv das einfallende Licht, während der Spiegel hochklappt und schließlich - die Mattscheibe abdeckend und jeden Fremdlichteinfall ausschließend - zur Ruhe kommt. Elektrisch und somit praktisch verzögerungsfrei geben sie ihre Impulse an den Prozeßrechner weiter, der mit elektronischer Blitzesschnelle schaltet, die zur vorgewählten Belichtungszeit passende Blende stufenlos ermittelt und einstellt. Sobald das geschehen ist, gibt der Prozeßrechner die Verschlußfunktion frei - sie läuft ab.
Damit das alles geschehen kann, muß natürlich das Objektiv entsprechend eingerichtet sein: Alle Objektive der SLX enthalten ausschließlich elektronische Übertragungselemente. Auf der Anschlußseite sieht man eine Reihe von elektrischen Kontakten, über die die Verbindung zum Prozeßrechner hergestellt wird. Und jedes Objektiv ist mit einem Linearmotor ausgerüstet, der die Befehle dieses Prozeßrechners ausführt.
Ein Linearmotor - das ist eine Konstruktion aus Spule und Kern, die elektromagnetisch funktioniert, berührungsfrei, praktisch masselos und dadurch ohne mechanischen Verschleiß, ohne mechanische Verzögerung. Dieser Linearmotor ist ausführendes Organ. Er empfängt elektronische Impulse. Und auf diese Impulse hin öffnet und schließt er die Lamellen sowohl der Blende wie auch des Verschlußes. Der eigentliche Verschluß aber ist er nicht, und er ist auch nicht die eigentliche Blende: Verschluß und Blende sind Funktionen des Prozeßrechners. Und diese Funktionen laufen mit vollelektronischer Steuerung ab.
Das macht die SLX zur ersten Mittelformat-Kamera mit vollautomatischer Belichtungssteuerung aus dem Kamerainnern. Was bisher als wesentliche Schwierigkeit galt - der störende Fremdlichteinfall durch die Mattscheibe, der bei halbmechanischen Konstruktionsversuchen und ihren mechanischen Verzögerungen das Meßergebnis in Frage stellen mußte - ist hier ebenso elegant wie zeitgerecht gelöst. Aber das ist nicht die einzige, elegante Problemlösung, die die SLX zu bieten hat: Nehmen wir doch einmal an, Sie hätten diese Kamera bereits zu Ihrer Verfügung. Natürlich würden Sie sie zunächst laden. Dazu nehmen Sie einen der - es wurde betont: billigen! - Kunststoffeinsätze, die einer Kodapak-Kassette entfernt ähnlich sehen: Zwei Mulden, durch Stege verbunden. Sie stecken den Rollfilm in die eine Mulde, ziehen den Vorspann bis zur anderen Mulde und stecken ihn dort in eine Leerspule. Dann stellen Sie den Pfeil "Anfang" auf eine Markierung. Vielleicht haben Sie mehrere dieser vorladbaren Kassetten. Dann laden Sie natürlich alle und stecken die überzähligen einfach in die Tasche.
Eine vorgeladene Kassette aber tun Sie in die Kamera: Sie machen an der Rückseite den Deckel auf und lassen sie einfach hineinfallen - weshalb Rollei das Ding auch Drop-in-Kassette nennt. Sie schließen den Kameradeckel. Und schon tut Ihre Kamera etwas. Sie jault leise auf, transportiert den Film, bis Bild 1 aufnahmebereit ist. Dann stoppt sie.
An dem großen Drehknopf an der rechten Kameraseite stellen Sie zuerst die Filmempfindlichkeit und danach die Belichtungszeit ein, die Sie für Ihr jeweiliges Motiv brauchen. Am Objektivring drehen Sie auf "A" für Automatik. Jetzt treffen Sie noch eine Entscheidung - wollen Sie mit der rechten oder der linken Hand auslösen? Entsprechend schrauben Sie sich den Auslöseknopf an der Vorderseite unterhalb des Objektivs ein. Und jetzt kann's losgehen: Sie visieren Ihr Motiv an, stellen durch Drehen am Objektiv scharf und drücken auf den Auslöser. Sie drücken, so oft Sie wollen. Rollei machte zwar darüber auch wieder keine Angaben, aber ich schätze, daß Sie und Ihre Kamera ungefähr drei Aufnahmen innerhalb von zwei Sekunden schaffen.
Jedesmal, wenn Sie ausgelöst haben, jault die Kamera kurz auf. Sie transportiert den Film. Und wenn Sie ihn ganz verschossen haben, dann jault sie einen Augenblick länger - sie wickelt den Nachspann auf. Jetzt brauchen Sie bloß den Kunststoffeinsatz herausnehmen, den nächsten hineinfallen zu lassen, und schon können Sie weiterfotografieren. Für ganz Sparsame ist das natürlich nichts - die Kamera gestattet ihnen nicht, das 13. Bild auf den zwölfer Rollfilm zu quetschen. Und für die wenigen, die während der Aufnahmeserie zwischen Farbe und Schwarzweiß wechseln wollen, ist es ebenfalls nichts - eine teilbelichtete Drop-in-Kassette kann man nicht auswechseln, ohne den Film zu ruinieren. Aber dafür ist das alles ja auch nicht gedacht. Es ist gedacht für Leute, die in möglicherweise sehr schneller Schußfolge das entscheidende Bild tatsächlich erfassen und nicht zähneknirschend verpassen wollen. Rollei hat etwas für schnellen Filmwechsel tun wollen. Und bei der SLX geht er schneller von statten als bei jeder anderen Kamera. übrigens - Sie können auch auf Dauerfeuer schalten und vollautomatisch Serien schießen. Sie können - mit irgendwelchen, bisher unbekannten Zusatzteilen die Kamera für Mehrfachaufnahmen programmieren und in blitzschneller Folge 5-10-20 Belichtungen auf ein Stück Negativ- oder Diamaterial machen - für stroboskopartige Effekte. Sie können - auch dafür ist die Kamera werkseitig bereits vorbereitet - Daten einspiegeln, Ihre Aufnahmen numerieren oder codieren. Und, natürlich, Sie können die ganze Automatik abschalten und ganz normal mit Hand Ihre Blende einstellen. Dann zeigt Ihnen die Kamera zwar an, was Sie nach Meinung des Prozeßrechners falsch machen, aber sie tut nichts dagegen, sie hindert Sie nicht.
Objektive werden in den Brennweiten 30-500 mm zu Ihrer Verfügung stehen, daneben das übliche Zubehör wie - neben Faltlichtschacht - Prismensucher oder Sucherlupe, Zwischenringe und Balgengerät.
Betrieben wird dieser Foto-Computer mittels NC-Akkus, die durch ein Rapid-Ladesystem wieder aufgeladen werden. Natürlich können Sie einen Satz Wechselakkus stets bei sich führen falls Ihnen mal der "Saft" ausgeht.
Wieviel das Wunderwerk kostet? Nun, darüber war nicht die geringste Andeutung zu bekommen. Und das ist verständlich: Die SLX ist ein Prototyp. Prototypen sind Absichtserklärungen - und keine fertigen Produkte. Rollei kann also noch gar keine Preisandeutungen machen. Aber wir haben diesen Aspekt im Kollegenkreis diskutiert und sind glaube ich - zu gewissen Anhaltswerten gekommen: Daß die Kamera tatsächlich gebaut werden wird, dürfte nach Dr. Peesels Worten feststehen. Würde sie in geringen Stückzahlen nur für Profis gebaut, müßte sie wahrscheinlich um 3.000,- DM kosten - und würde die ganze, höchst aufwendige Entwicklungsarbeit niemals lohnen. Also wird sie in relativ großen Stückzahlen auf den Markt kommen und damit preislich in Reichweite des Amateurs sein. Die Schätzungen der Fachjournalisten bewegten sich zwischen 1500,- und 1800,Mark für die Kamera mit Faltlichtschacht und Normalobjektiv. Und wann wird sie zu haben sein? Nun, auch darüber gab Rollei aus dem erwähnten Grund keine Auskunft. Aber: Es ist vollkommen sinnlos, die Konkurrenz durch Vorstellen eines Prototyps anzuheizen, wenn man ihr nicht auch zuvorkommen kann. Warten wir auf die nächste photokina ich denke, dann können Sie Ihre Bestellung aufgeben.
Und jetzt muß ich etwas sagen, was die Rollei-Leute bestimmt auch wissen, was sie aber sicher weniger freut: Ich denke, daß Sie sich auf dieser nächsten photokina bereits mehrere Kameras ansehen können, die ähnlich funktionieren - auch Kleinbildkameras. Denn die SLX ist Prototyp der Kameras von morgen. Sie ist die erste einer neuen Generation. Und dieses Ding konstruiert zu haben - das kann den Rollei-Leuten keiner mehr nehmen.

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