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Alexander Borell über:

Minox 35EL - Die Primaballerina

Man freut sich stets, wenn jemand ein Versprechen hält. In der Fotowerbung wird nicht alles gehalten, was versprochen wird.
Auf der photokina versprach die neue MINOX 35 EL ein besonders nettes, ja ein geradezu faszinierendes Spielzeug für erwachsene Kinder zu werden, bei dem jeder, der diese kleine Kamera sah, sofort sagte: "Habennn!"
Bei mir in der Praxis hat sie nicht nur dieses Versprechen gehalten, sondern darüber hinaus weit mehr geleistet: sie ist eine vollgültige KB-Kamera mit großem Bedienungskomfort und tadelloser optischer Leistung.

Wer die photokina 74 besuchte, kam einfach am Minox-Stand nicht vorbei: man mußte die kleine 35 EL mal rasch in die Hand nehmen. Und dann machten alle von mir beobachteten Herren - teilweise auch von der Konkurrenz - die gleiche Handbewegung: sie steckten das Kleinchen in die Jackentasche. Tasche heißt auf englisch "pocket" - und pocketer geht's wirklich nicht mehr. Dazu beim vollen Format 24x36, jeder KB-Film des Handels kann in den üblichen Patronen verwendet werden, und die DIN-Zahl läßt sich bequem am Kameraboden von 15 bis 30 DIN einstellen. Bemerkenswert ist an dieser EL einiges:
Bemerkenswert ist die Wiederentdeckung eines Prinzips, das sich schon einmal bewährt hatte, dann aber in völlige Vergessenheit geriet, obwohl Fachjournalisten - darunter auch ich die Industrie immer wieder daran erinnerten: das Prinzip der Retina.
Die alten Ägypter hatten schon gewußt, daß sich die Erde um die Sonne dreht. Das vergaß man so gründlich, daß man 1633 Herrn Galilei unter der Folter zum Widerruf dieser Lehre zwang.
Vermutlich ist es dem weltweiten Einfluß von Leitz und Zeiss, von Leica und Contax zu verdanken, daß man das Retina-Konzept vergaß, denn die neue Ära der Kleinbildkameras war "vorne ohne`, und so baute man eben in dieser Richtung weiter. Zum Schutz empfahl man dem Käufer "Bereitschaftstaschen". In der Erinnerung ist die Retina winzig klein, ein Tresor, dessen Tür alle Eingeweide schützt. Nimmt man sie heute in die Hand, ist sie ein ganz massiver und ziemlich schwerer Brocken Kamera, aber . . . die Tresortüre ist immer noch was Feines.
Und genau hier hat Minox wieder angeknüpft: Die 35 EL ist ein kleiner Tresor, der eine Menge hochwertiger Technik und Elektronik birgt, und der sich mit einem Türchen schließen läßt.
Daß es sich wirklich um einen Tresor handelt, zeigt das Kopfbild: Ich hatte sogar einen 80kg-Mann darauf stehen, nur war er nicht so fotogen.
Minox lieferte mir mit der ersten 35 EL auch ein recht hübsches "Bereitschaftstäschchen" gut vielleicht gibt's wirklich Käufer mit dem Schonbezuginstinkt, aber ich fasse dieses Gehäuse aus glasfaserverstärktem Makrolon viel zu gerne an, und ich finde diese Kamera gerade so flach und klein, wie sie nun einmal ist, so goldrichtig, daß mir eine Tasche dazu vorkommt, wie ein gehäkelter Kaffeewärmer auf einer Bierflasche (Verzeihung, Herr Minox, wenn Sie das Ledergeschäft gern zusätzlich machen wollen . . . ?).
Bemerkenswert ist weiterhin folgendes: Jeder, aber wirklich auch jeder, nimmt die 35 EL in die Hand, und dann sucht er. Er sucht einen Knopf oder einen Hebel, um den Deckel aufzumachen. Aber den gibt es nicht, weil der Deckel einfach so aufgeht, und ebenso ohne Drück-Trick wieder schließt. Und zwar nahezu staubdicht, wie ich mit einem verkehrt pustenden Staubsauger ausprobiert habe. Gegen die gefürchteten Fasern und Tabakkrümel in männlichen Durchschnittstaschen sind die Innereien also bestens geschützt.
Bemerkenswert ist auch das automatisch ausfahrende Objektiv, ein Minotar 2,8/35 mm. Ein Vierlinser mit Frontlinseneinstellung, der Entfernung von unendlich bis 0,9 m und Blenden von 2,8 bis 16 hat. Die optische Leistung reicht bei normalen Ansprüchen für Vergrößerungen bis 24x30 ohne Einschränkung aus. Wer auf etwa 8 abblendet, die Kamera aufs Stativ nimmt und einen Agfapan 25 geladen hat, kann bei richtiger Entwicklung noch weit mehr damit schaffen. Aber Stativ? Die 35 EL liegt wirklich überraschend gut im Griff, und der Auslöser . . . ach, dieser Auslöser! Jeder hat damit schon längst ausgelöst, während er immer noch auf das "Klick" wartet! So sanft und so leise arbeiten Auslöser und Verschluß.
Bemerkenswert ist auch der Verschluß: Batteriegespeiste Elektronik, zeitgesteuert nach Vorwahl der Blende. Er schafft bei 15 DIN automatisch von 1/500 sek. bis zu vollen 30 sek.! Bei 30 DIN noch bis zur vollen Sekunde. Wird ein Blitz in den heißen Schuh geschoben, ist ebenfalls automatisch die 1/30 sek. programmiert.
Das Objektiv ist also mit seinen 35 mm ein "Weitwinkel". Daher hat man mit der Schärfentiefe bei geschätzter Entfernung keine Schwierigkeiten, zumal ein Schärfentiefenring Auskunft über die Schärfenzone gibt. Laden Sie mal einen 30DIN-Film, Sie haben bei Blende 11 oder 16 immer die 1/500 sek., und Schärfe von etwa 1,5 bis unendlich. Weitwinkel? Eigentlich war das mal einer, heute gehören 35 mm Brennweite schon zu den Standardobjektiven, der Weitwinkel fängt erst bei ca. 28 mm an, und wer sich heute als Zusatz einen kauft, wählt meist schon 24 oder noch weniger.
Bemerkenswert ist ebenso der Filmtransport: Eine Kombination aus Hebel und Zahnrad. Zweimal Schalten ist zum vollen Filmtransport nötig. Der Auslöseknopf bleibt nach dem Auslösen im Gehäuse stecken, Doppelbelichtungen sind dadurch nicht möglich. Und wenn der Deckel geschlossen ist, kann man überhaupt nicht auslösen: Fehlbelichtungen sind also unmöglich.
Daß man bei Minox Leuchtrahmensucher bauen kann, hat die bisherige "Minox" weltweit bekannt gemacht. Auch der Sucher in der 35 EL ist Spitze und wäre Vorbild für manchen, der mehr Geld verlangt. Rechts im Sucher zeigt eine Nadel die der Blende entsprechende Verschlußzeit an: Eine dicke Nadel, fast schon ein kleiner Balken, und ebenso lobenswert deutliche Zahlen. Man sieht Zeiger und Zahlen aus dem Augenwinkel was man von einigen recht teuren Spiegelreflexsystemen keineswegs behaupten kann.
Nach Umlegen eines Hebels am Boden der Kamera läßt sich die ganze Rückwand abnehmen: Dieser Hebel hat mich, als die Kamera ganz neu war, einige Fingernägel gekostet. Inzwischen geht er etwas leichter, und meine Nägel haben sich daran gewöhnt. Das Befestigen des Filmanfangs auf der Aufwickelspule ist auch nichts für beidseitige Linkshänder, vielleicht sollte Minox die Fangnase an der Spulenhülse etwas größer machen. Bei einem Preis von knapp DM 300,- ist die kleine EL 35 zu einer harten Konkurrenz für alle "Pockets" dieser oder einer noch höheren Preisklasse geworden, und es wird lange Zeit dauern, bis Minox so viele Kameras täglich liefern kann, wie gekauft werden: Ich prophezeie ihr einen Bombenerfolg!
Eine wirklich vergleichbare Konkurrenzkamera ist die Rollei 35, und da hat sich ja Neckermann mit einer ganzen Jahresproduktion vollgestopft. Also dürfte er der einzige sein, der sich über die neue kleine 35 EL nicht freut: Minox macht's unmöglich.

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