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Artikel

2009

NÖRGELMANN ÜBER: HOLOGON ULTRAWIDE

Ein Objektiv und ein bißchen Kamera drum herum: so was gibt's schon für dreißig Mark. Wie aber, wenn dieses Objektiv allein schon um 1000 Mark wert ist, und es sich um eines der interessantesten und kostbarsten handelt, die Zeiss je gebaut hat?
Ich hatte schon von ihr gehört, wie man halt von manchem hört: irgendeine Kamera mit einem Superweitwinkel, - sonst nichts. Superweit liegt heute so etwa um die 20 mm, - was ist schon dabei?
Und dann kam sie eines Tages zu mir: eine ganz schlichte Contarex. Kein Spiegel, kein Meßsucher, eigentlich nichts, außer einem etwas merkwürdigen Objektiv, fest eingebaut, tief im Kamerakörper, - und eine Blendeneinstellung findet man auch nirgendwo. Man sieht nur die winzige Öffnung im Objektiv, und der Schlitzverschluß bringt auch nur noch die 1/500.
Aber dann reißt es einen plötzlich fast vom Stuhl: Brennweite für 24 X 36 ganze 15 (fünfzehn!) Millimeter!
Na ja, dachte ich: Fischauge. Auch schon längst nichts mehr für eine schlaflose Nacht. Und dann schaute ich durch den Sucher: aha, wirklich Fischauge (zu deutsch: Fisheye!) mit den bekannten kreisförmig gebogenen Konturen am Bildrand. Ich hatte eigentlich keine große Lust, dieses Ding zu testen, denn ich gebe nur ungern miserable Noten, am wenigsten einem Werk, das ohnedies bereits mit dem Tode ringt. Nach dem Abendessen las ich die karge Gebrauchsanleitung, - aber auch einen Artikel der Amerikaner mit Bildbeispielen, und ich kam erst ins Bett, als der Morgen bereits graute ... Machen wir es wie jeder, der eine Kamera zum ersten Mal in die Hand nimmt: wir schauen durch den Sucher. Die gekrümmten Konturen kümmern uns jetzt nicht mehr, denn die sind nur im Sucher gekrümmt, auf dem Negativ nicht! Ein verzeichnungsfreier Sucher hätte noch mal fast soviel gekostet, wie das Objektiv. Man sieht eine neue Welt, man sieht mit einem Sehwinkel von 110 Grad, man kommt sich vor wie das berühmte Chamäleon, das überall gleichzeitig hinschauen kann, und meine Frau, die mir interessiert zuschaute, schien zwölf Meter entfernt zu sein, obwohl sie nur 60 cm vor mir stand.

Zuerst macht einen die kleine Blase der Wasserwaage, die man im Sucher und auf der Kamera sieht, nervös, aber bald hat man den Dreh heraus und bringt sie automatisch in die Mitte: dann gibt es nicht einmal stürzende Linien bei der Aufnahme.
Das Objektiv hat nur drei Linsen, - aber was für welche! Schauen Sie sich das Schnittbild einmal an: man fotografiert praktisch durch eine überaus komplizierte Kugel, die in ihrer Mitte eine Wespentaille hat: und genau dieser Durchmesser ist die Öffnung 1:8. Unveränderlich. Dafür bringt diese Kamera einen Schärfenbereich, wirklich gestochene Schärfe, (die unglaubliche Ausschnittvergrößerungen erlaubt!) von 50 cm bis Unendlich. Sonst könnte man höchstens noch erwähnen, daß der Schlitzverschluß sehr leise abläuft, man braucht nicht zu befürchten, daß einem Herr von Karajan die Kamera aus der Hand schlägt, wenn man bei einem Pianissimo im Konzertsaal fotografiert. Und von seinen eigenen Fingerknöcheln an, über die Nachbarn links und rechts, den ganzen Konzertsaal mit auf dem Bilde hat. (Herrn von Karajan kann man später herausvergrößern, und dann wirkt das wie eine ganz normale Aufnahme mit einer mittellangen Brennweite!)
Was noch? Man kann die üblichen Contarex-Kassetten dazu verwenden, also rasch die Filme wechseln. Und man kann ...
Wissen Sie, mein Platz auf dieser Seite ist beschränkt, ich könnte aber eine Sondernummer mit dem ausfüllen, was alles man mit dieser einmaligen Kamera machen kann. Wobei schlechthin fotografieren noch das allerwenigste ist: man kann zusätzlich völlig neu damit fotografieren, man entdeckt eine Welt, eine neue Art, die Welt zu sehen, und man entdeckt in sich selber plötzlich Fähigkeiten, von denen man bisher keine Ahnung hatte. Diese Hologon ist ein Instrument für junge, dynamische Leute und wirkt auf alte Fotografen, die fotomüde geworden sind, wie eine Strophantinspritze auf ein müdes Herz.
Sie sprechen z. B. mit jemandem, der vor Ihnen sitzt und nicht fotografiert werden will: er merkt es nicht, daß Sie hin und wieder auslösen und weiterschalten, und in der Dunkelkammer finden Sie Negative, auf denen randscharf die ganze Person einschließlich Sitzgelegenheit, Hut und Schuhen drauf ist.
Oder Sie gehen auf einer Straße, halten ihre Hologon in der herabhängenden Hand und drücken auf den Auslöser, wenn Sie was Nettes oder Interessantes zwei bis drei Meter vor sich haben: Ihr rechter Gehfuß ist mit drauf, die ganze Straße, und das Nette natürlich auch.
Oder Sie halten diese Kamera einfach hoch, so hoch Sie können, und drücken: Sie haben die Zuschauer, die Polizei und den Unfall dokumentiert. Und immer, wenn Sie herausvergrößern, sieht kein Mensch, daß diese Aufnahme nicht mit einer ganz normalen Kamera gemacht wurde.
Aber das alles sind eigentlich nur Nebenprodukte dieser Kamera, interessant für den Schnappschützen und den Profi, der sie auch wegen ihrer flachen Konstruktion unbemerkt unter der Jacke tragen kann und, trotz Geheimpolizei, mit den Aufnahmen heimkommt, die kein anderer machen durfte.
Die größte Freude beginnt erst, wenn Sie mit dieser Hologon anfangen, Bilder zu gestalten. Das ist etwa so, wie 360 PS erst Freude machen, wenn man sie morgens um vier Uhr auf der leeren Autobahn loslassen kann. Alles, was Sie seither bis zum Überdruß fotografiert haben, fotografieren Sie jetzt noch einmal, und alles ist ganz anders, fremd und unerhört reizvoll.
Und ich sage es Ihnen schon jetzt, damit Sie vorbereitet sind: wenn Sie nicht nach zwei Tagen total hologonsüchtig sind, hätten Sie niemals eine Kamera in die Hand nehmen sollen!
Sehr schnell werden Ihnen Ihre eigenen Finger links und rechts im Bild lästig: Sie verwenden den praktischen Handgriff mit Auslöser, und dann gelingt Ihnen, die Kamera an die Stirn gepreßt, sogar die halbe Sekunde aus der Hand! Ja, aber nur 1:8?
Es reicht, meine Freunde, es reicht allemal, denn wir haben Filme mit 27 oder über 30 DIN. Und in Farbe auch 27 DIN, wenn's sein muß. Aber wir haben doch früher auch unsere Standard-Einstellung mit Lichtwert 13 gehabt: Blende 8 und 1/125 - und damals 17 DIN! oder? Verzeichnungsfrei, wirklich? Wirklich! Eine gerade Hauswand bleibt auch am Rande eine gerade Hauswand. Nur runde Scheiben werden oval, aber das liegt nicht am Objektiv, sondern an der Physik. Die Lichtstrahlen fallen so schräg ein, daß sie runde Scheiben eben oval abbilden. Und sie fallen außerdem noch so schräg ein, daß Sie ein Format von 25 X38 mm ausfüllen, zwischen den einzelnen Aufnahmen finden Sie fast keinen Zwischenraum! Natürlich fällt, ebenfalls infolge der Physik, bei solchem Winkel das Licht nach den Rändern zu etwas ab. Wen das stört, der kann es mit einem Spezialfilter ausgleichen. Oder später beim Vergrößern.
Ich kann dieser Kamera keine Note geben, denn eine Note setzt immer einen Vergleich mit anderem voraus. Man kann aber die Hologon nicht vergleichen, weil es sie nur einmal auf der Welt gibt.
Und damit bin ich bei dem Punkt, der mir besonders am Herzen liegt: Ich verstehe es, wenn eine Mutter ihre Tochter, die nichts taugt und nur Geld verpulvert, eines Tages abschreibt, wie Carl Zeiss das mit Zeiss Ikon-Voigtländer getan hat. Aber ich könnte es nicht verstehen, wenn man zwei ganz reizende und vielversprechende Enkelkinder ebenfalls sterben läßt. Und was ich nun sage, ist an die Adresse von „Kaufleuten" gerichtet, nicht an die von „Geschäftsleuten", (die deutsche Sprache und die Realität machen da feine Unterschiede!): Lassen Sie die Hologon nicht sterben, ich bin davon überzeugt, daß sie gerade erst im Begriffe ist, richtig erkannt zu werden und richtig zu leben. Und leisten Sie sich etwa noch ein zweites Welt-Spitzenmodell dazu. Vielleicht liegt es schon in Ihrer Schublade? Sie, Mutter Zeiss, sind das nicht nur Ihrem alten und guten Namen schuldig, sondern auch zigtausenden von Fotoamateuren, die weiterhin eine „Zeiss" besitzen wollen, und nicht den Schrottwert einer verstorbenen Fabrik. Geben Sie uns allen mit der Hologon und einem zweiten Spitzenmodell wieder die Möglichkeit, koste es, was es wolle, wieder stolz auf unsere
„Zeiss" zu sein!

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