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Artikel

2009

Dr. Land lüftet den Schleier - ein wenig

Die neue Polaroid SX-70 im Herbst 1973

„Absolute One-Step-Photography" - absolute Einstufen-Fotografie - lautet der Titel eines Vortrags, den Dr. Edwin Land, Wissenschaftler, Entwicklungschef und Fotoindustrieller (Polaroid Corporation) am 10. Mai dieses Jahres auf Einladung der Society of Photographit Scientists and Engineers (SPSE) in San Francisco hielt. Dabei lüftete er den Schleier über einigen Details der „Neuen Generation" der Polaroid-Fotografie - zumindest ein wenig.
Wenn wir nachfolgend über diese neuen Informationen berichten, kommen wir damit dem Erscheinen der neuen Kamera nicht nur um kurze Zeit zuvor, wie man vermuten könnte. Man erinnere sich an das ursprüngliche Datum der vorgesehenen Markteinführung in den USA: Weihnachten 1972. Daraus wird nun leider nichts. Wenige Tage vor der photokina gab Thomas H. Wyman, Senior-Vice-Präsident und General-Manager der Polaroid Corporation, eine - erste - Verzögerung bekannt: Weil Elektronik-Zulieferer im Verzug seien und Polaroid in einem eigenen, neugebauten Werk nahe Bosten Probleme habe, müsse die Markteinführung der neuen Kamera verschoben werden. Statt unter dem Christbaum, wird „Aladdin" jetzt nächstes Jahr im Ostereier-Korb zu finden sein - so in Amerika. In Deutschland wird die Markteinführung wahrscheinlich erst im Herbst '73 erfolgen.

Was wir wissen

Zunächst sei noch einmal zusammengefaßt, was im Lauf der vergangenen Monate über die neue Polaroid-Kamera-Generation bekannt und im „Foto-Magazin" zu verschiedenen Gelegenheiten auch veröffentlicht wurde
Bisher sind Polaroid-Kameras groß und erfordern umständliche Manipulationen, wobei Ungeschicklichkeit das Ergebnis verschlechtern kann. Der Polaroid-Fotograf hat entweder die Taschen voller Abfall, oder er hinterläßt eine Schmutzspur. Polaroid-Bilder sind zunächst einmal feucht an der Oberfläche und kratzempfindlich. Wie kann ein so unmögliches Foto-Verfahren auch nur einige Freunde finden? Trotz aller Schwierigkeiten: Binnen weniger als einem Vierteljahrhundert entstand für das soeben geschilderte Produkt ein Weltmarkt, der sich gegenwärtig auf rund 1,6 Milliarden DM beläuft. Jetzt wurde dieses Produkt, das farbige Sofortbild, noch einmal erfunden. Außer einem Farbfoto von bisher bei Polaroid ungewohnter Bildqualität gibt es folgende System-Kennzeichen, alles Verbesserungen

Die neue Kamera ist dank modernster Technik erheblich kleiner als frühere Modelle - zusammengeklappt paßt sie sogar in größere Jackentaschen.

Die Bedienungshandgriffe beschränken sich auf das Einlegen des Filmpacks, die Entfernungseinstellung und das Auslösen des Verschlusses. Bedienungsfehler sind weitgehend ausgeschaltet.

Die neue Polaroid-Fotografie ist umweltfreundlich: Es gibt keine Abfälle, vor allem kein chemikalienbeschmiertes Negativ.

Statt dessen entsteht ein sofort wisch- und kratzfestes Positiv, das bereits eine Sekunde nach der Verschlußauslösung ausgestoßen wird und sich außerhalb der Kamera, in vollem Licht, zu außerordentlicher Farbbrillanz, Schärfe und Strahlkraft entwickelt.

Licht, zu außerordentlicher Farbbrillanz, Schärfe und Strahlkraft entwickelt.
Zu einigen dieser Konstruktionsmerkmale des Kameraprojekts „Aladdin" (gelegentlich auch als „SX-70" bezeichnet) stehen nun erläuternde Einzelheiten zur Verfügung.

Die erste Spiegelreflex-Polaroid

Die Kamerakonstruktion verwendet das Spiegelreflexprinzip. Dies ist das erste Mal bei einer Polaroid-Kamera - und es ist auch der erste unkonventionelle Beitrag zur Spiegelreflextechnik seit langer Zeit.
Grundidee des neuen Kamerakonzepts: der Strahlengang vom Objektiv zur Filmebene verläuft nicht gerade, sondern geknickt; die Filmebene liegt demzufolge auch nicht parallel zur Frontplatte der Kamera. Vielmehr wird der Film bei der von Polaroid gewählten Lösung in den Kameraboden eingeschoben.

Zick-Zack-Strahlengang

Für das Knicken oder Falten des Strahlenganges sind Spiegel nötig; da - wie Dr. Land in seinem Vortrag sagte - ohnehin keine überzeugende Lösung für einen guten Sucher vorlag, entschloß man sich, auch für den Sucher Spiegel zu verwenden - die Spiegelreflex-Idee war geboren.
Von der Idee zur Realisation waren allerdings einige Details zu meistern, in denen der sprichwörtliche Teufel steckt.
Das fängt beim Sucherstrahlengang an. Das Bild muß auf nahezu abenteuerliche Weise in der kompakt gebauten Kamera auf Zick-Zack-Kurs zum Auge gebracht werden.
Das bildformende Licht fällt zunächst auf einen Betrachtungsspiegel, der schräg angeordnet ist und den Sucherstrahl zweimal reflektiert. Das erste Mal nach unten zum Kameraboden. Dort liegt der Filmpack, in der Betrachtungsposition lichtdicht abgedeckt von einem schwenkbaren Doppelspiegel. Dessen Oberseite ist als Fresnelfläche ausgebildet, sorgt also für eine gewisse Bündelung des Lichts. (Fresnellinsen sind bisher von Scheinwerfern und auch Einstellscheiben bekannt; Fresnel-Spiegeloberflächen sind neu.) Da der Doppelspiegel dezentral angeordnet ist, kann das von ihm reflektierte Strahlenbündel vom vorher schon erwähnten schrägen Betrachtungsspiegel ein zweites Mal abgelenkt werden - diesmal durch eine kleine Öffnung im Kameragehäuse in den Sucherkomplex.
Dort trifft es auf einen ebenfalls dezentrierten Konkavspiegel asphärischer Wölbung. Er korrigiert die auf dem recht gewaltsamen Weg des Strahlenbündels entstandenen Verzerrungen und bietet dem Auge - über ein Okular - ein klares, übersichtliches und leicht auf seine Schärfe beurteilbares Bild.

Qualitätsfaktor Spiegeldämpfung

Ein weiteres Problem: Bei der Polaroid-Reflexkamera schwenkt der Spiegel zur Belichtung nicht einfach aus dem Strahlengang. Der den Filmpack bedeckende Spiegel klappt zwar nach oben, wenn der Auslöser gedrückt (und der Kameraverschluß geschlossen) ist. Seine Unterseite stellt aber jetzt eine wichtige Umlenkfläche für den Belichtungsstrahlengang dar: von dort wird das Licht auf den Film reflektiert. Da es sich um ein schnell durch Federkraft bewegtes Teil nicht eben geringer Dimension handelt, mußte der schnellen und wirksamen Erschütterungsdämpfung besondere Aufmerksamkeit (und besonderer Konstrukteurwitz) gewidmet werden.

Beiträge zur Miniaturisierung

Mit dem Knicken des Strahlengangs allein war es allerdings nicht getan. Zitieren wir Dr. Lands Vortrag: „Wir brauchten zwei Jahre, um festzustellen, daß der Miniaturisierungsgrad der Kamera ganz wesentlich von der Größe des Objektivs, des Verschlusses,
der Fotozelle, der Elektronik abhängt. Hier mußte radikal neu konstruiert werden. Wir schufen ein neues Objektiv, einen neuen Verschluß, eine neue Blende, eine neue Entfernungseinstellung eine neue elektromechanische Steuerung, neue integrierte Halbleiterschaltungen."
Dr. Land wies besonders auf die außerordentlich kurze Konstruktion des vierlinsigen Objektivs hin, dessen Gesamtlänge weniger als ein Achtel der Brennweite ausmacht (die nicht angegeben wird, aber um die hundert Millimeter oder weniger betragen dürfte). Aus dem veröffentlichten Linsenschnitt ist nichts Sensationelles zu erkennen. Die Entfernungseinstellung erfolgt durch Frontlinsenverstellung. Das Objektiv gibt dem Benutzer einen besonderen Vorteil: Bis zum Abbildungsverhältnis 2: 1 kann er ohne weiteres einstellen; für Abbildungen in natürlicher Größe bedarf es eines - als Zubehör vorgesehenen - Objektivvorsatzes.

Umfassende Elektronik

Alle Operationen in der neuen Kamera werden durch eine elektronische Schaltung gesteuert und überwacht, die in einem Elektronik-Modul zusammengefaßt ist. Sie enthält den Gegenwert von rund 300 Transistoren, wie Dr. Land erklärte. Und das sind ihre Aufgaben: Wenn der Verschluß ausgelöst wird, bestimmt sie die richtige Belichtungszeit-/ Blenden-Kombination wie ganz grundsätzlich den richtigen Ablauf der einzelnen Funktionen. Falls die Lichtverhältnisse Blitzbeleuchtung verlangen, schaltet die Elektronik von der integralen Messung um auf ein Blenden-/Entfernungsprogramm. Außerdem sucht sie im aufsteckbaren Blitzgerät eine noch nicht benützte Lampe und zündet sie. Die Elektronik ist schließlich auch dafür zuständig, daß nach Einlegen des Filmpacks von zehn Aufnahmen sofort die Aufnahmebereitschaft hergestellt wird, indem das Lichtschutz-Deckblatt ausgestoßen wird.

Produkt „forcierter Evolution"

„Sekunde" - das liest sich so lang . . . Tatsächlich ist es, als ob man ohne Pause, immer wieder, auf den Auslöser drücken könnte, zehnmal nacheinander. Allerdings zeigt das gleich nach der Belichtung ausgestoßene Produkt noch kein Bild. Auf der einen (Rück-) Seite ist es weiß, auf der anderen ist ein weißumrandetes, grün-gräuliches Feld zu erkennen. Doch schon nach einer Minute wird das anders. Konturen schälen sich heraus. Zwei, drei oder maximal fünf Minuten nach der Aufnahme ist das fertige Bild zu betrachten. Es ist besser als alles andere, was man vorher von Polaroid in Farbe gesehen hat.
Da jedes der Filmblätter nun nur noch das enthält, was später als Polaroid-Farbbild in's
Album oder in die Brieftasche kommt, also keinen Abfall in Form von Deckpapier und Negativ und Chemikaliengelee, ist das Bild-Sandwich der „Neuen Generation" dünner als die konventionellen Polaroid-Negativ/Positiv-Filmverbände. Dennoch: Zwischen dem transparenten, kratzfesten, hochglänzenden Deckblatt, durch das Licht zur Belichtung auf die reagierenden Oberflächen fällt wie durch ein Fenster, und dem stabilen Trageblatt, befinden sich nicht weniger als 15 fotochemische Schichten, die zusammen nicht dicker sind als 0,05 (fünf Hundertstel!) Millimeter. Dr. Lands Fünfzehn-Decker-Sofortbild-Sandwich, sozusagen.
Dem Außenmaß des Filmverbands von etwa 106X 86 mm steht ein genutztes Innenformat von ca. 80X 80 mm gegenüber. Die drei schmalen Ränder dienen zum einen der Bildbegrenzung, zum anderen aber auch der räumlichen Stabilisierung des Emulsions-Pakets und teilen es zwischen jenen beiden Schichten, die bei der Entwicklung mit der Chemikalienpaste benetzt werden sollen. Diese Chemikalienpaste ist in einem Behälter im breiteren weißen Rand enthalten; sie wird ausgepreßt, wenn das Filmblatt durch zwei Quetschwalzen in der Sekunde nach der Belichtung ausgestoßen wird.
Der Filmpack enthält außer dem Deckblatt und den zehn Filmblättern auch noch eine Batterie. Das bedeutet, daß für jedes „Fotografier-Spiel von zehn Bildern der Kamera-Elektrik und -Elektronik" jeweils eine frische Batterie zur Verfügung steht. Das bedeutet aber auch, daß der Belichtungsautomatik die Filmempfindlichkeit über einen in die Packung eingebauten Widerstand eingegeben wird.

Das Sofortbild-Sandwich

Auch zum Schichtaufbau macht Dr. Land in seinem Vortrag Angaben, die er jedoch relativiert: „Ein typischer Aufbau für unsere neuen Schichtstrukturen könnte etwa so aussehen …." (von oben, also der Bildseite):

Das transparente Deckblatt (das Dr. Land nicht „Fenster" nennen will, da sich dahinter kein Luftzwischenraum befindet), 

eine Schicht polymerer Säure,

dann eine Schicht, die „Zeit-Polymer" genannt wird, d. h. die den zeitlichen Ablauf der fotochemischen Reaktion beeinflußt oder steuert,

dann eine Stabilisierungs- und Sperrschicht, die zusammen mit der darunterliegenden 

Polymerschicht das Bild und die - neuartigen - Anilinfarben stabilisiert und ein Weiterwandern der Teilchen im Diffusions-Transfer-Prozeß stoppt.

Dann folgt, nach unten, eine Gelatineschicht, unter der

die nötigen Farb-, Filter-, Entwickler- und Antihalo-Schichten liegen.

Dieser ganze komplizierte Aufbau ruht auf kräftigem Trägermaterial, dessen Stärke so gewählt wurde, daß das Farbbild als Endprodukt einen angenehmen Eindruck macht.

Das sorgfältig geplante und erzeugte Schichten-Arrangement gerät in dem Augenblick durcheinander, in dem nach der Aufnahme durch die Verteilung der pastösen Chemikalien der Bildaufbau beginnt. Die viskose Reaktionssubstanz enthält vor allem Alkali- und Titaniumdioxid. Sie zwingen beim Durchwalzen des Bild-Sandwichs durch die Quetschrollen zwei Emulsionsschichten auseinander und sofort ergibt sich eine Reaktion, die den Aufbau einer neuen Schichtung zur Folge hat - mit einer Schicht strahlend-weißen Titaniumdioxid-Pigments als Reflexions-Hintergrund für die Farben, die in Umwandlungsprozessen sichtbar werden, deren Details noch der Offenlegung harren.

Chemische Dunkelkammer

Auch was die „chemische Dunkelkammer" anlangt, in der sich diese Vorgänge minutenlang abspielen, ohne daß auch das hellste Tageslicht schaden könnte, herrscht Unklarheit. Recht allgemein hieß es im Vortrag von Dr. Land: „Als eine der vielen Möglichkeiten, die wir ausprobiert haben, bietet sich folgende an: Wir synthetisierten neuartige Indikator-Farben, die bei einem hohen pH-Wert eine hohe Lichtabsorption aufweisen, also kein Licht durchlassen, bei niedrigen pH-Werten aber farblos werden und auch so bleiben. Wir planten, solche Farben der Reaktionssubstanz beizumengen, wodurch diese Opal wird, sobald sie die Bildschicht bedeckt. Kurz nach der Ausbreitung der Reaktionsschicht würden die Alkali-Ionen in der Schicht polymerer Säure gefangen und die Indikator-Farben würden transparent."
Das liest sich einfacher, als es ist, und vor allem ist es mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht der Weg, den man bei Polaroid tatsächlich geht. Sicher ist, daß das Problem gelöst wurde und das Polaroid-Bild der „Neuen Generation" wenige Augenblicke nach der Aufnahme in millionenfach stärkeres Licht treten kann, als zur Belichtung nötig war. Dazu sagte Dr. Edwin Land etwas sehr Kennzeichnendes: „Im Sinne von System-Planung war es wahrscheinlich der abenteuerlichste Schritt in unserer Entwicklungsarbeit, einfach von der Annahme auszugehen, wir hätten dieses Problem gelöst. Wir konstruierten die Kamera, als sei der Film schon fertig, und das in einem Stadium, in dem wir erst Grundlagenforschung in der Frage betrieben, wie man das Bild sofort ins Licht bringen kann."

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