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Alexander Borell Kommentar

Die Geheimwaffe des Ostens:

Die Praktica VLC2

Vor mehr als einem halben Jahr habe ich mich einer Nachläßigkeit schuldig gemacht, für die ich jene Anruferin heute um Entschuldigung bitten möchte. Sie erklärte mir nämlich, sie suche eine Kamera mit Belichtungsmessung durchs Objektiv, aber mit auswechselbaren Suchersystemen, die sie zu einer bestimmten Aufgabe dringend brauche. Ich empfahl ihr - die Canon F-1! Obwohl ich sie selber besitze, war ich im Augenblick davon überzeugt, der Meßvorgang finde bei ihr im Gehäuse statt, nur die Sucher könnten gewechselt werden. Da mir Name und Anschrift dieser Anruferin fehlten, kann ich nur noch hoffen, daß sie meine falsche Angabe noch rechtzeitig gemerkt hat.
Dieses Erlebnis aber brachte mich auf den Gedanken, nun meinerseits eine Kamera zu suchen, die nicht nur über Innenmessung durchs Objektiv verfügt, sondern bei der diese Messung im Body stattfindet, so daß man obendrein noch verschiedene Suchersysteme verwenden kann. Ich mußte lange suchen, und es kommt mir vor wie ein Treppenwitz der Werbung, daß man anderwärts über jedes neue Schräubchen in lautes Hallelujah-Geschrei ausbricht, die Firma Beroflex aber, als Importeurin der Praktica-Modelle, diese geradezu sensationelle Eigenschaft der VL-C 2 gewissermaßen fast unter der Hand verkrümeln läßt. Es waren noch nie ausgesprochene Schönheiten, die von "drüben` zu uns kamen, aber es waren immer handfeste und dralle Dinger, die sich nicht zierten, die einen harten Rempler vertrugen und die fast nie zum Doktor mußten: Ecken sind nun einmal billiger als wohlproportionierte Rundungen, aber sie sind nicht weniger stabil.
Eine weitere, in aller Stille ausgebrütete Sensation bedeutet für mich auch die konstruktive Lösung der Auswechselbarkeit der Einstellscheiben. Auch diese sind nämlich nicht, wie sonst überall üblich und stets voneinander abgeguckt, tief im Kamerakörper versenkt, sondern auf der Unterseite des Suchersystems, so daß man sie wirklich bequem auswechseln kann. Ich muß bei aller Liebe zur OM-Olympus gestehen, daß es mir noch nie gelungen ist, eine Mattscheibe trotz bei gegebener Spezialzange - so auszuwechseln, daß ich nicht hinterher entweder Staub, oder Augenwimpern oder gar feine Kratzer darauf hatte. Ich sollte da wohl einmal einen Sonderkursus mitmachen.
Bei der Praktica geht das einfacher als anderswo das Filme-Einlegen.
Und genau das ist mein nächstes Stichwort: Warum, zum Teufel, zwingt man mich anno domini 1976 immer noch, selbst bei 2,5-Mille-Spitzenkameras, diesen jämmerlichen Leicaschwanz in eine Spule zu fummeln und darauf zu achten, ob ein mikroskopisch kleines Häkchen Lust hat, den Film um den Spulenkern zu ziehen und festzuhalten? Der Weisheit letzter Schluß dieser Spulwürmer in den Konstruktionsbüros ist die epochale Erfindung, der Spule mehr als einen Schlitz zu verpassen.
Bei der Praktica geht das fast vollautomatisch: Filmpatrone rein, Film raus, unter eine kleine Nase schieben bis zum deutlich sichtbaren grünen Punkt, breiten Bügel auf Fangstellung, Deckel zumachen und transportieren: es liest sich viermal so lange, als es dauert.
Selbstverständlich wird bei Offenblende gemessen, wenn man die Originalobjektive mit elektrischer Blendensteuerung verwendet.
Daß man immer noch an dem M-42-Gewinde festhält, ist nur noch mit dem Kühler eines Rolls Royce vergleichbar: hier scheint man konservativ bleiben zu wollen, bis auch der letzte Schrauber das Zeitliche gesegnet hat oder gibt's drüben noch so viele? Normalerweise gibt es heute keine Kamera mehr auf der Welt, von der die Produzenten nicht behaupten, sie hätte ein "strahlend helles Sucherbild`, auch wenn's drin so duster ist, wie in einem Pharaonengrab bei Nacht. Die Praktica-Leute sind ehrlich: sie schreiben nicht strahlend hell, und der Sucher ist es auch nicht. Aber es läßt sich nach den verschiedenen Systemen präzise scharf einstellen.
Wer sich die absolute Vielseitigkeit einer echten "Systemkamera" wünscht, wer bereit ist, zugunsten überlegener Technik auf Eleganz zu verzichten, und wer obendrein noch mit seinem Geld etwas rechnen möchte, der fährt mit dieser Praktica VLC 2 recht gut! Für mich werbeverseuchten Westernmann ist es faszinierend, mit welch nonkonformistischer Selbstverständlichkeit man hier großartige Technik und fortschrittlichste Konzeption in eine Kamera einbaut, die mich, im Ganzen gesehen, doch ein wenig an den Ausspruch meines großen Landsmanns Karl Valentin erinnert:
"Können hätten die Konstrukteure schon wollen, aber dürfen hat man sie nicht überall gelassen." Sonst würde man vermutlich uns und den noch weiteren Osten schon längst das Gruseln gelehrt haben.
Runde DM 700,- sind nicht zuviel für diesen ungeschliffenen Edelstein von drüben.

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