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Alexander Borell Kommentar

Die neue Leica R3

Albert Einstein hat es bekanntlich entdeckt: Alles auf dieser Weit ist relativ. Und da ich eine Legehenne im Stall für relativ nützlicher halte, als einen Paradiesvogel im Urwald, spreche ich heute von der Leica R 3 und nicht von der Rollei SL 2000, obwohl die beiden Kameras den Hauptgesprächsstoff auf dieser photokina 76 abgaben. Außerdem habe ich mit dieser neuen Leica R 3 schon zwei Dutzend Filme belichtet, entwickelt und durchkontrolliert; in die SL 2000 noch nicht einen eingelegt. Und um bei Relationen zu bleiben, für mich sind es stets drei Dinge, die zusammen den Wert einer Kamera ausmachen: Die technisch-optische Leistung, die Handlichkeit und der Preis. Bei der Leica R 3 stimmt alles, bis auf eine Ausnahme, die ich nicht verschweigen werde.

Am wichtigsten und bei der Arbeit mit dieser Kamera am gravierendsten ist die zweifache Möglichkeit der Belichtungsmessung. Diese Kamera beendet den uralten Streit, ob integrale oder selektive Messung "besser" sei: sie kann beides. Und wie sie das kann, ist so praxisbezogen, daß ich es mir nicht besser wünschen könnte. Neben dem Auslöser betätigt der Finger - nach kurzer Zeit der Gewöhnung - fast unbewußt den kleinen Knopf, der die Sperre zur Verstellung der Meßmethode freigibt. Ein Schalten nach links bedeutet Spotmessung, nach rechts erfolgt die Messung integral. Die Integralmessung bringt Vorteile, denn sie arbeitet etwa wie ein genialer Anfänger: sie macht nichts falsch, aber auch nichts optimal. Da es bei den meisten Aufnahmen darauf ankommt, in der Eile nichts falsch zu machen und doch ein brauchbares Ergebnis zu bekommen, scheint es mir empfehlenswert, die Kamera in Bereitschaft auf "lntegralmessung" zu stellen. Sie erzielen damit in 90% aller Gelegenheiten tadellose Fotos. Bei den restlichen 10%, die allerdings wertungsmäßig meistens die schönsten Aufnahmen enthalten, genügt die kleine Fingerbewegung, und Sie messen genau den Punkt an, der besonders bildwichtig ist. Beim Dia z. B., wenn Sie besonders satte Farben und prägnantes Licht wünschen messen Sie die hellste bildwichtige Stelle an. Mit SW-Film bekommen Sie mit der Spotmessung noch ausreichende Durchzeichnung der tiefen Schatten, wenn Sie diese anmessen. Technisch hat Leitz dieses System nicht nur hervorragend gelöst, sondern auch noch zusätzliche Vorteile für den Fotografen eingebaut. Bei der Spotmessung nämlich wird ein Teil des Lichtes durch den Spiegel nach unten reflektierte wo er auf eine Meßzelle am Kameraboden auftrifft. Bei dieser Messung gibt es kein falsches Licht durch das Sucherokular (Abdeckung daher auch bei Stativ und Sonne von hinten überflüssig!), und außerdem kann das Meßergebnis durch Druckpunkt am Auslöser gespeichert und "mitgenommen` werden. Es ist in dieser Kombination die vollendetste Messung! Für alle anderen Gelegenheiten schalten wir auf "integral" und erhalten unseren Meßwert über zusätzliche zwei Meßzellen, also ,insgesamt über drei. Hieraus ergibt sich eine Mittenbetonung, aber auch die Notwendigkeit Falschlicht durchs Sucherokular auszuschalten, wenn direktes Licht in den Sucher fallen könnte. Ein leichtgängiger Hebel neben dem Okular löst dieses Problem.
Der Schnellschalthebel läßt sich so weit in seine Arbeitsstellung ausklappen, daß auch der dickste Daumen noch bequem Platz hat. Der gleiche Daumen schaltet dabei die gesamte Elektrizität der Kamera aus und ein, wobei in der "Aus"-Stellung zugleich der Auslöser verriegelt ist.
Dies alles, was sich hier etwas langatmig liest, hat man nach zwei Filmen buchstäblich "im Griff."
Ich bin kein bedächtiger Bildermacher vielmehr halte ich mich für einen ausgesprochen schnellen Schnappschuß-Menschen. Ich entdecke meine Motive entweder blitzschnell irgendwo, oder ich sitze stundenlang an einem "motivträchtigen" Ort und warte mit orientalischer Geduld, bis das passiert, womit ich gerechnet habe, In beiden Fällen aber muß das Fotografieren selber jedoch überraschend schnell geschehen, und deshalb schätze ich Kameras ganz besonders, die mir eine solche Reaktion leicht machen. Außerdem: mit einer schnellen Kamera kann ich auch langsame oder statische Motive fotografieren, mit einer umständlichen und langsamen aber keine schnellen. Ich habe bisher noch mit keiner Kamera so schnell und dabei doch bewußt gezielt fotografieren können, wie mit dieser Leica R 3. Was mir als zweites, nach der Wahl der Belichtungsmessung, besonders gut gefiel, ist eine Sache, die ich bis zur R 3 noch nie wirklich ernsthaft praktiziert habe: ich meine die Abblendtaste zur Kontrolle der Schärfentiefe. Das lag daran, daß ich, wie gesagt, ein Schnappschüßler bin, aber auch daran, daß diese "Rasten" meistens so eingebaut sind daß man entweder gar nicht oder nur mit mühsamen Fingerbewegungen drankommt. Bei der R 3 ist das ein echtes Vergnügen, und ich habe es zu meiner eigenen Überraschung immer wieder getan. Dieser "Hebel" ist nämlich so groß dimensioniert und liegt so haargenau dort, wo ich ihn mit dem Mittelfinger erreiche daß ich mich tatsächlich dran gewöhnt habe, die Schärfe hin und wieder zu kontrollieren. Im Grunde ist das nötig, vor allem bei einem Automaten mit Blendenpriorität, wie es die R 3 ist: man wählt also die Blende vor, die Zeit stellt sich automatisch ein.
Und hier ist der erste Punkt, wo sich diese Kamera von ihren Kollegen der reiferen Jahrgänge nicht unterscheidet: eine Zahlenskala, ein Zeiger - sonst nichts. Keine Leuchtdioden und kein Innenlicht, wie bei der SL 2. Und wenn es draußen dunkel ist, ist es halt im Sucher auch nicht hell, und die automatischen Zeiten muß man erraten, auf Gedeih oder Verderb der Fotos. Das dürfte auch für Leitz noch keine Endlösung sein. Ein kleiner Vorteil hingegen ergibt sich doch: die Helligkeit des Sucherbildes ist sprichwörtliche Leitzqualität und mildert damit die obige Feststellung ein wenig. Die Scharfstellung erfolgt über ein Schnittbild, umgeben von einem Mikroprismenring, oder - z. B, bei sehr langen Brennweiten mit geringer Anfangsöffnung - auf der Mattscheibe selber. Neben dem klaren Bild haben Sie rechts die Zeitenskala, und oben ist die eingestellte Blende sichtbar, daneben deutlich ein A`, falls Sie mit Automatik fotografieren, oder die manuell eingestellten Verschlußzeiten. Selbstverständlich ist der Verschlußzeitenknopf gegen unbeabsichtigtes Verstellen auf "Automatik" arretiert, Ebenso gesichert ist alles andere: die Einstellung der Filmempfindlichkeit, die generelle Korrektur nach + bis zu zwei Blenden, was dem persönlichen Geschmack des Fotografen entgegenkommt, der je nach Projektor seine Filme generell etwas heller oder dunkler haben möchte. (Ich habe einen hellen Föhntag in den Bergen durch Korrektur nach -1 Blende auf Kodachrome erheblich dramatisiert!) Der Meßumfang von Lichtwert 1 bis 17 erscheint mir ausreichend. Eine Prüftaste für die Batterien (2 x 1,5 Volt im Boden!), ein Mittenkontakt (X-Synchronisation bei 1/90 sek. ausreichend!) ein einfacher und deutlicher Hebel für gewollte Doppelbelichtungen, eine Filmtransportkontrolle - das alles erhöht den Komfort, den diese Kamera bietet. So wäre sie rundherum ein Meisterstück, wenn . . . aber hier zitiere ich am besten aus einem Leserbrief:
"Ich wünsche mir einen genauso objektiven Kommentar von A. S. . . . eventuell frei nach ihm selber: Es gehört sich einfach nicht, eine Leica R 3 auf den Markt zu bringen, die als Automatikkameras (!) keinen Motor- oder Winderanschluß hat. Ebensowenig gehört es zur Systempflege, diese Kamera mit einem geänderten Bajonett-Anschluß zu versehen, der Leicaflex-Besitzer zwingt, ihre Objektive kostenpflichtig umbauen zu lassen. In diesem Zusammenhang befürchte ich, daß A. B. zuviel wagte, als er in COLOR FOTO 4/76 behauptete, wer heute Leitz wähle, habe sich für einen neuen Aufsteiger entschlossen."
Dieser Brief kommt mir gerade gelegen, um das zu sagen, was meiner Meinung nach zu den angeführten Problemen zu sagen ist - natürlich aus meiner Sicht, die immerhin ein klein wenig tiefer nach Wetzlar hineinreicht, als die des Schreibers.
Um bei dem Wort "Aufsteiger" zu bleiben: gewöhnlich meine ich etwas so, wie ich es formuliere, und ein "Aufsteiger" war noch nie ein Weltmeister, er ist aber vielleicht auf dem Wege dorthin. Es ist bekannt, daß Leitz über Jahre in einer gewissen Lethargie verharrte, aber es ist ebenso bekannt, daß man in Wetzlar aus der flautebedingten Leestellung nun wieder kräftig im und am Wind segelt. Was die Modelltreue betrifft: an ihr kann man auch beinahe sterben, wenn man sie zu lange betreibt. Das konnten wir alle bei einem Konzern miterleben, der im Jahre 1974 noch Autos baute, die zwar außen zwei Trittbretter, dafür innen keinen Platz hatten. Man "tat es dem Kunden an"- die Modelle gründlich zu wechseln, und nun sind beide wieder glücklich: das Werk und die Kunden. Auch bei Leitz mußte man sich entscheiden, ob man mit Modelltreue in Schönheit und Würde sterben oder etwas Neues riskieren sollte.
Ich danke Leitz für die letztere Entscheidung, denn nun gibt es vielleicht ein paar ärgerliche Kunden, die für den Umbau ihrer Objektive einen Teil der Selbstkosten von Leitz bezahlen müssen, aber es wird weiterhin Leitz geben, und das scheint mir wichtiger.
Was schließlich den Anschluß eines Winders oder Motors an automatischen Kameras betrifft, stehe ich voll zu dem, was ich bei der Nikkormat EL und bei der Canon EF erklärte: Man muß heute an Kameras mit automatischer Funktion einen "Drive" anschließen können. Das ist nicht nur ein Entwicklungs- und Modetrend, sondern es spricht sich allmählich herum, daß oft der zweite Schuß der bessere ist, was man allerdings meistens erst dann voll begreift, wenn man einmal mit elektrischem Antrieb fotografiert hat. Inzwischen gibt es "Drive-Modelle" bei beiden Firmen, und die waren auch nicht so modelltreu, daß man mit Umbauen davonkommt: man muß völlig neue Kameras kaufen, wenn man einen Winder dazu verwenden will.
Warten wir es doch gerechterweise auch bei Leitz erst einmal ab, was kommen wird - schimpfen kann man dann immer noch. Wenn es, wie ich selber überaus bedaure, zur R 3 jetzt keiner, Winder gibt, so hängt dies vielleicht mit dem "Aufsteigen" zusammen. Aber wenn mich nicht alles trügt, lassen mich gewisse technische Details hoffen, daß es eines Tages einen sehr durchdachten elektrischen Antrieb zur R 3 geben wird, und man bisher Erworbenes nicht ausrangieren muß, sondern umbauen lassen kann. Soll man es Leitz verübeln, wenn man dort den Unfug anderer nicht mitmacht, auf Messen Dinge zu zeigen, die Jahre später immer noch nicht lieferbar sind? Die Leica R 3 jedenfalls bekommen Sie beim Händler etwa zur gleichen Zeit, in der dieses Heft erscheint. (Und knapp DM 2.000,- mit einem der besten Objektive der Welt dürfte für so viel Können angemessen sein!

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