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Test und Technik Report

Spezialkameras für Panorama- und Shiftaufnahmen

Kameras mit Format

Daß Bewährtes auch spektakulär sein kann, zeigen zwei Kameramodelle, die am Zeitgeist vorbei von zwei Tüftlern entwickelt wurden: Gilde 66-17 MST und Silvestri Hermes. Die Kameras bieten freie Formatwahl und einige Verstellmöglichkeiten.

Kameras, die genau den eigenen Wünschen und Vorstellungen entsprechen, gibt es normalerweise nicht. Die meisten fotografierenden Menschen finden sich damit ab. Nicht so der Augenarzt Dr. Kurt Gilde und der italienische Architekturfotograf Vincenzo Silvestri. Sie haben unabhängig voneinander zwei Kamerasysteme entwickelt, die auf ihre bevorzugten Aufnahmegebiete (Weitwinkel-, Panorama- und Architekturfotografie) hin maßgeschneidert sind und die in puncto Vielseitigkeit ihresgleichen suchen

Die Gilde 66-17 MST

Die Gilde 66-17 MST ist eine Spezialkamera für Rollfilm, mit der man wahlweise Aufnahmen in den Formaten 6x6, 6x9 6x12 und 6x17 Zentimeter belichten kann. Die Formatbegrenzung erfolgt über zwei Schieber, die stufenlos bewegt werden können. Die jeweiligen Aufnahmeformate sind mit Einstellmarken für die Schieber gekennzeichnet. Prinzipiell kann aber jedes beliebige Aufnahmeformat stufenlos eingestellt werden (auch kleiner als 6x6), wenn man sich die entsprechenden Einstellpositionen markiert. Es ist sogar möglich, mehrere Formate auf ein und demselben Rollfilm zu belichten. Die vollkommen freie Formatwahl ist jedoch mehr eine theoretische Möglichkeit, denn in der Praxis wird man selten die Muße haben, um diese "grenzenlose Formatfreiheit" ausnutzen zu können. Für die Kontrolle des Filmtransports stehen acht kleine Bildfenster (für verschiedene Formate und Shiftpositionen) mit Rotglas auf der Magazinrückwand zur Verfügung, die nach Verschieben des Abdeckbleches die jeweilige Bildnumerierung auf dem Schutzpapier des Rollfilms freigeben. Das Magazin kann gegen ein Mattscheibenrückteil mit Lichtschutz und Einstellupe ausgewechselt werden. Wenn die Kamera auf einem Stativ befestigt ist, kann man sowohl das Magazin als auch die Magazinrückwand recht einfach abnehmen und wieder ansetzen. Allerdings läßt sich das Magazin auch bei offenem Bildfenster abnehmen. Man sollte also nicht vergessen, vor der Magazinabnahme beide Formatschieber in die Nullposition zu schieben. Der Film wird mit einem großen Rändelrad transportiert, der Verschluß am Objektiv gespannt. Die Gilde-Kamera kann mit Schneider-Objektiven von 47 mm bis 180 mm Brennweite bestückt werden. Selbstverständlich können aber auch andere Großformatobjektive an die entsprechenden Platinen montiert werden. Bei der Wahl der Brennweiten sollte man stets bedenken, daß nicht alle Objektive das volle Format von 6x17 Zentimeter auszeichnen. Ein zu kleiner nutzbarer Bildkreisdurchmesser für das jeweilige Aufnahmeformat kann auch die Verstellmöglichkeiten einschränken oder sogar zu Vignettierung (Abschattung) in den Bildecken führen.
Die Zusatzbezeichnung "MST" steht für "Magazin", "Shift" und "Tilt". Das Magazin haben wir bereits kennengelernt; jetzt gilt es, auf die Shift- und Verschwenkmöglichkeiten einzugehen. Die Objektivebene der Gilde 66-17 MST kann um 10 Grad nach unten oder oben geschwenkt werden (bei horizontaler Kamerahaltung). Dadurch ist es - wenn auch begrenzt möglich, die Lage der Schärfentiefenebene nach dem Scheimpflugprinzip zu beeinflussen. Zur Kontrolle des Schärfenausgleiches sollte man unbedingt das Mattscheibenrückteil einsetzen. Das Objektiv kann in horizontaler Kameraposition auch um jeweils 15 mm nach unten oder nach oben geshiftet werden. Die Nullposition ist leider nicht gerastet, sondern nur markiert. Die Verschiebung kann mit dem Mattscheibenrückteil direkt geprüft oder mit dem Sucher simuliert werden. Der optische Sucher (verbesserter Newton-Sucher) kann verschoben werden, wobei Gravuren und Rastpositionen am Sucherfuß die den jeweiligen Brennweiten entsprechenden Einstellungen markieren. Der Universalsucher kann mit zwei Rahmen bestückt werden, einem für die Brennweiten 47 mm, 58 mm und 65 mm sowie einem für 75 mm, 90 mm, 135 mm, 150 mm und 180 mm. Die Sucherrahmen können vertikal verschoben werden (bei horizontaler Kameraposition).

Shiftsimulation

Die weißen Punkte auf dem Sucherrahmen entsprechen jeweils -5 mm Vertikalverschiebung des Objektivs. Die Bildfeldbegrenzung für das jeweilige Aufnahmeformat kann mit zwei Schiebern in der Suchermaske simuliert werden. Bei kleineren Aufnahmeformaten als 6x17 cm kann die Verschiebung auch horizontal erfolgen, und zwar um maximal 28 mm beim 6x6 und 6x12-Format, sowie uM42 mm beim 6x9-Format. Wenn man die Kamera im Hochformat hält, hat die Formatverschiebung dieselbe Wirkung wie eine Vertikalverschiebung für den Perspektivenausgleich stürzender Linien. Die Formatverschiebung kann mit dem Mattscheibenrückteil direkt betrachtet oder mit den Sucherschiebern für die Formatbegrenzung simuliert werden. Bei der Formatverschiebung müssen natürlich nicht nur die Formatschieber an der Kamera, sondern auch der Rollfilm entsprechend "versetzt" werden. Für den Filmtransport beim "Shiften" sind fünf der acht Rotglasfenster auf der Magazinrückseite gedacht (und eindeutig gekennzeichnet). Natürlich können die drei Verstellungen auch miteinander kombiniert werden, wie zum Beispiel Vertikalverschiebung des Objektivs, seitliche Verschiebung des Aufnahmeformats und Verschwenkung der Objektivplatine. Für die genaue Ausrichtung ist die Kamera mit je zwei Wasserwaagen für Hoch- und Querformat ausgestattet. Die fünfte Wasserwaage ist im Sucher untergebracht und eingespiegelt (sie ist für Querformataufnahmen gedacht).
In der Fotopraxis ist das alles gar nicht so kompliziert, wie man es vermuten würde, denn die Gilde-Kamera ist durchdacht und mit viel Liebe zum Detail konstruiert. Wir haben den ersten, von Kurt Gilde in Handarbeit gefertigten Prototyp in der Praxis geprüft. Die Kamera ist solide verarbeitet und soll demnächst in Kleinserie gehen. Der Prototyp der Gilde 66-17 MST wird auf der photokina in Halle 13.3 Gang C, Stand 33 gezeigt. Dort werden auch andere von Kurt Gilde gefertigten Kameras zu sehen sein, darunter die kleinere 66-12 MST (maximales Aufnahmeformat 6x 12 cm, sonst identisch mit der 66-17 MST), die größere 66-17 MST Super, die bis 25 nun geshiftet werden kann, sowie eine Stereokamera, die auf der 66-17 MST basiert und jederzeit zu einer solchen zurückgebaut werden kann.

Silvestri Hermes

Die Silvestri Hermes ist eine spezielle Architekturkamera, die aber auch für Industrie- sowie für Panorama- und Weitwinkelfotografie gut geeignet ist. Mit den verschiedenen Balgen sind sogar Makroaufnahmen möglich. Das Hermes-Modell ist Bestandteil eines modularen Systems, dem auch die Weitwinkelkamera Silvestri SG 612 und die Shiftkamera Silvestri SLV (Vorgängermodell der Hermes) angehören. Das umfangreiche Zubehör macht das Silvestri-Konzept universal einsetzbar. Es können beispielsweise Rollfilmkassetten für die Formate 6x7 cm, 6x9 cm und 6x12 cm sowie Planfilmkassetten für 4x5 Inch verwendet werden. Die Silvestri-Kameras sind aber mit einem internationalen Drehrückteil ausgestattet, so daß auch Rollex-Kassetten für die Formate 4,5x6 cm, 6x6 cm und 6x8 cm eingesetzt werden können. Einige Kassetten sind nicht nur für 120er Rollfilm, sondern auch in Ausführungen für 220er und 70mm-Rollfilm erhältlich. Natürlich passen auch Sofortbildkassetten an die Silvestri-Kameras. Zum weiteren Zubehör zählen zwei Einstellbalgen mit Lupe, ein drehbar gelagerter 90-Grad-Spiegelsucher mit Lupe, verschiedene Balgen und Zwischenringe, Filterhalter und Filteradapter, ein ergonomischer Handgriff mit Drahtauslöser und vieles mehr.
Als Wechselobjektive stehen Schneider-Kreuznach-Optiken mit Brennweiten zwischen 47 mm und 150 mm zur Verfügung. Die Brennweite 180 mm kommt von Horseman (Topcon Super ER 5,6/180 mm). Die Wechselobjektive sind mit einem Silvestri-Bajonett ausgestattet. Die Scharfeinstellung über Balgen ist sehr einfach. Lediglich das Fokussieren über den Einstellring der Weitwinkelobjektive ist bei der SG 612 etwas fummelig, weil der Schutzkäfig und die leicht versenkte Objektivplatine den Zugriff auf den Einstellring erschweren. Ansonsten ist die Bedienung der drei Silvestri-Modelle recht einfach, nachdem man sich mit den Besonderheiten der Kameras vertraut gemacht hat.
Die SG 612 kann nicht "geshiftet" werden. Die "shiftbaren" Modelle Hermes und SLV haben eine große Auflagefläche, die mit Gummifüßen versehen ist, so daß die Kameras beispielsweise in engen Räumen ohne Stativ auf der Fensterbank aufgestellt werden können. Die Hermes kann um maximal 15 mm nach oben und um 10 mm nach unten verstellt werden (Nullpunkt auch hier nicht gerastet). Die Optik der SLV kann nur nach oben verschoben werden, dafür aber um maximal 25 mm. Die SLV ist auch auf der Oberseite mit einem Stativgewinde ausgestattet.
Wenn man die Kamera umgekehrt auf dem Stativ befestigt, kann die Optik auch nach unten bis maximal 25 mm verschoben werden. Die vertikale Verschiebung wird auf den fest eingebauten Sucher der Hermes automatisch übertragen. Beim Aufstecksucher der SLV muß die Vertikalverschiebung mit einem Einstellrad simuliert werden. Sowohl der fest eingebaute Sucher der Hermes als auch der Aufstecksucher der SLV können als Universalsucher gelten, denn sie können mit Formatmasken bestückt werden, die die Bildfeldbegrenzung in Abhängigkeit vom jeweiligen Aufnahmeformat und der jeweiligen Brennweite anzeigen. Das gilt sowohl für Quer- als auch für Hochformataufnahmen sowie für die Anzeige der Vertikalverstellung. Selbstverständlich ist es auch möglich, die Vertikalverstellung direkt auf der Mattscheibe zu betrachten, wenn man einen Einstellbalgen oder den Spiegelsucher verwendet. Für die genaue Ausrichtung der Kamera stehen mehrere Wasserwaagen oder Libellen auf den einzelnen Rückteilen zur Verfügung. Darüber hinaus sind sämtliche Sucher mit einer Libelle ausgestattet, die beim Blick durch den Sucher die Kameraausrichtung erleichtert.
Die Silvestri Hermes kostet mit Mattscheibe und Filmkassette 6x9 etwa 5100 Mark,
Beide Kameras sind für anspruchsvolle Fotografie in den Gebieten Architektur-, Industrie-, Panorama- und Weitwinkelfotografie sehr gut geeignet. Das große Aufnahmeformat und gut korrigierte Objektive garantieren hervorragende Abbildungsqualität. Beide Kamerasysteme bieten mehrere Aufnahmeformate und sind vielseitig in der Anwendung, wobei das Silvestri-System vielseitiger und überzeugender, das Gilde-Konzept dagegen überschaubarer ist. Die Kameras von Gilde und Silvestri sind aber weder billiger noch vielseitiger als eine Fachkamera. Sie üben aber auf den Fotografen eine Faszination aus, die wohl auf ihre besondere Entwicklungsgeschichte zurückzuführen ist. Beide Kamerakonzepte sind unmittelbar aus der Fotopraxis für die Fotopraxis entstanden und mit viel Liebe zum Detail konstruiert. Die Arbeit mit diesen Kameras ist eine Rückbesinnung auf die Grundlagen der Fotografie, die wir angesichts der "High-Tech-Fotografiererei" als sehr erfrischend empfunden haben.

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