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Photographica Aktuell
Die Balgenkameras der 50er Jahre
Nicht nur Rollfilm
Balgenkameras für das Mittelformat gibt es auch heute zu kaufen. Man sieht sie aber eher seiten. Ein Blick zurück in jene Zeit, als der Balgen nicht nur bei Rollfilmkameras, sondern auch bei so manchem Kleinbildmodell üblich war.
Als meine Tante Inge (es gibt sie wirklich) meine Vorliebe für alte Kameras entdeckte, fiel ihr ein, daß sie noch den Apparat des verstorbenen Onkels hatte. Den sollte ich bekommen. Aber ob es dafür noch Filme gäbe? Es war eine Voigtländer Bessa I, gebaut ungefähr 1952, wunderbar gepflegt. Und natürlich gibt es noch den dazugehörigen 120er Rollfilm. Die Kamera ist ein typisches Beispiel dafür, was Anfang der fünfziger Jahre gefragt war. Natürlich ab es auch schon Kleinbildkameras. Nicht nur die fast unbezahlbaren Leicas und Contax, sondern auch hochkarätige Modelle von Voigtländer und Agfa und billigere Modelle von Bilora, Bolta und anderen Herstellern. Aber die Sache mit dem Kleinbild hatte einen Haken: es mußte vergrößert werden, und Vergrößerungen waren teurer als die Kontaktkopien, die bei Rollfilm üblich waren.
Mein Onkel hatte eine gute Wahl getroffen. Die Bessa I ist solide gebaut, hat ein dreilinsiges Vaskar-Objektiv mit den Daten 4,5/105 mm, Belichtungszeiten von 1 bis zu 1/250 Sekunde, einen Selbstauslöser und sogar einen Parallaxenausgleich am Fernrohrsucher, der allerdings per Hand einzustellen ist. Dazu besitzt sie eine Doppelbelichtungssperre mit einer Anzeige, ob der Film transportiert wurde oder nicht. Entfernungsmesser, Belichtungsmesser und vielleicht gar ein Filmtransport, der ohne den Blick durchs rote Fenster auf das Film-Schutzpapier zu betätigen war, waren weitaus teueren Modelle vorbehalten.
Im Grunde verkörperte die Bessa I - wie die meisten anderen Balgenkameras jener Zeit ein Konzept der dreißiger Jahre, das wegen der Kriegszeit nur behutsam weiterentwickelt worden war. Es gibt ein paar grobe Anhaltspunkte, anhand derer man Vor- und Nachkriegsmodelle unterscheiden kann. Nach dem Krieg setzte sich die Vergütung der Linsenflächen weitgehend durch, die eine sehr wirksame Erhöhung der Bildbrillanz brachte. Sie ist erkennbar an dem farbigen, meist bläulichen Schimmer der Linsen.
Vorkriegs- und Nachkriegsmodelle
Die Blitzsynchronisation mit Normstecker fand nach dem Krieg auch immer mehr Verbreitung. Diese Merkmale können bei der Datierung aber auch täuschen, da mancher Besitzer sein edles Vorkriegsmodell nachträglich verbessern ließ. Nach dem Krieg wurde auch die Doppelbelichtungssperre immer mehr üblich. Außerdem waren die Modelle in den 50er Jahren konsequenter ausgestattet.
Vor dem Krieg fand man noch öfters Kameras, bei denen hochwertige Objektive in unzureichenden Gehäusen steckten, zum Teil sogar ohne Filmandruckplatte und mit miserabler Filmplanlage, oder Kameras mit luxuriöser Ausstattung, bei denen man am Objektiv gespart hatte.
Im Photo-Porst-Katalog von 1952 wurde die Bessa I für 122 Mark angeboten. Das war für damalige Verhältnisse ein stolzer Preis, aber nicht zu hoch für die gediegene Verarbeitung und das Gebotene. Für 172 Mark gab es sie mit vierlinsigem Skopar mit höherer Lichtstärke (1:3,5). Es ging aber auch noch luxuriöser. Für 295 Mark gab es die vierlinsige Ausführung mit Entfernungsmesser, und wer 330 Mark bezahlte, konnte das Entfernungsmesser-Modell mit fünflinsigem Heliar (1:3,5) bekommen. Wer heute das Spitzenmodell sucht, wird weit mehr als den damaligen Neupreis berappen müssen.
Wer damals eine billige 6X9-Balgenkamera suchte, konnte sich zum Beispiel bei Agfa umsehen: Die spartanische Billy I gab es mit "Agnar"-Objektiv der Lichtstärke 1:6,3 für 57 Mark. Hier gab es allerdings nur einen Rahmensucher, keinen Gehäuseauslöser und keine Langzeiten, von einer Doppelbelichtungssperre gar nicht zu reden. Doch das muß man der Billy I lassen: Auch mit ihr kann man wunderbare Bilder machen. Es ist ja kein Geheimnis, daß das große Bildformat generell der Bildqualität zuträglich ist. Die Objektive jener Zeit enthalten meistens drei oder vier Linsen. Die Dreilinser von Agfa hießen Agnar und Apotar, die von Zeiss Novar oder Triotar, die von Voigtländer Vaskar oder Voigtar. Die Vierlinser hießen, beziehungsweise heißen Solinar, Tessar, Skopar.
Weit verbreitet war auch das 6x6-Format. Die Kameras waren kompakter, einfache Modelle waren billiger zu haben als die entsprechenden 6x9-Kameras, und außerdem sparte man am Film, da hier 12 anstatt nur acht Negative auf einen Film paßten. In alten Familienalben kann man sehen, daß das Format 6x6 den meisten Amateuren auch als Albumformat vollkommen ausreichte.
Es gab aber noch eine andere Zielgruppe für die 6x6-Kameras. So ist die Super Ikonta II 6x6 von Zeiss Ikon das höchste der Gefühle. Sie hatte das begehrte vierlinsige Tessar mit der damals für dieses Format ungewöhnlichen Lichtstärke von 1:2,8, einen Compur-Rapid-Verschluß mit Belichtungszeiten von 1 bis zu 1/500 Sekunde, einen Entfernungs- und einen Belichtungsmesser. Natürlich ist letzterer noch nicht mit dem Zeit- oder Blendenring gekuppelt, aber er hat einen großen Meßbereich.
Der Filmtransport verlangt nicht mehr den Blick durch das rote Fenster, sondern man dreht bis zum Anschlag und bekommt per Bildzählwerk den durch geführten Transportgang angezeigt. Die Rollfilmkameras wurden dann allerdings doch zusehends von Kleinbildkameras verdrängt, denn die Vergrößerungstechnik setzte sich im Labor immer mehr durch, so daß auf das große Ausgangsformat verzichtet werden konnte. Die Filme wurden außerdem feinkörniger und die Qualität des Kleinbildes dadurch immer besser. Auch die Kleinbildkameras waren zunächst großenteils mit Balgen versehen, schon in den dreißiger Jahren gab es die Kodak Retina und die Agfa Karat, und nach dem Krieg spielten sie immer noch eine wichtige Rolle. Sie waren sehr kompakt, und es gab einige technische Höhenflüge, so die Kodak Retina IIC mit Satzobjektiv, bei dem sich die Vorderlinsengruppe durch Weitwinkel- und Telesatz auswechseln ließ. Sie verfügte über einen Leuchtrahmensucher mit Markierungen für drei Brennweiten. Aber im selben Jahr kam bereits die erste Retina heraus, die keinen Balgen mehr besaß (IIIS).
Anfang der sechziger Jahre setzte sich die starre Form ohne Balgen gänzlich durch. Gekuppelte Belichtungsmesser waren gefragt, und die Übertragungsfunktionen ließen sich mit Balgen nur schwer realisieren. Bei billigen Kameras lohnte sich auch der Aufwand mit dem Balgen nicht mehr. Ein gutes, ja geniales Prinzip hatte ausgedient.
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