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Artikel
1997
Spezial Mittelformat
Die wechselhafte Karriere der zweiäugigen Spiegelreflex
Comeback eines Originals
Vor exakt 60 Jahren schlug die Geburtsstunde der zweiäugigen Spiegelreflexkamera. Bis in die sechziger Jahre hinein lieferte sich die Rolleiflex ein Duell mit der Leica und rief, besonders in Japan, zahlreiche Nachahmer auf den Plan. Heute stehen die Zweiäugigen wieder hoch im Kurs, und das nicht nur bei Sammlern.
Die mit Abstand meistverkaufte Mittelformatkamera in Deutschland ist eine Zweiäugige. Doch beruht diese spektakuläre Tatsache nicht auf konstruktiver Überlegenheit, sie hat vielmehr einen ganz profanen Grund. Die chinesische Seagull 4 B-1 kostet nur rund 150 Mark, ein verlockendes Angebot für viele, die nebenbei schon immer ein größeres Aufnahmeformat genießen wollten. Die Seagull ist dem Original der zweiäugigen Kameraidee, der Rolleiflex, nachempfunden. Diese Rollei stand jahrzehntelang als unerschütterliches Symbol für den traditionsreichen Hersteller Franke und Heidecke. Mitbegründer und Feinmechaniker Reinhold Heidecke soll einst in Braunschweig den berühmten Ausspruch getan haben: "Nur über meine Leiche wird eine Kamera dieses Werk verlassen, die weniger als zwei Objektive aufweist". Beinahe hielt der alte Herr zu lange an der Monokultur dieses Kameratyps fest.
Die Zweiäugige Rollei feiert in diesem Jahr ihr 60jähriges Jubiläum, und schon seit 1997 ist sie nach zwei limitierten Edel-Varianten in Gold und Platin als 2,8 GX wieder fester Bestandteil des Rollei Lieferprogramms. Gegenüber der in manchen Details liebevoller verarbeiteten Vorgängerin 2,8 F, die für viele Liebhaber dieses Kameratyps immer noch als Krönung einer ganzen Kameragattung gilt, hat die GX allerdings zwei entscheidende Vorzüge zu bieten, nämlich die TTL-Innenmessung und eine auf der Filmoberfläche gemessene Blitzbelichtung. Dafür verzichtet sie auf das Filmtastwerk, die automatische Schärfentiefenanzeige und die Entfernungskontrolle beim Sportsucher. Ihr Preis hält sich mit 2800 Mark noch in erträglichen Grenzen, obwohl sie damit neben der 2,8 F Platin die teuerste Kamera des zweiäugigen Prinzips ist, die es heute noch zu kaufen gibt.
Die billigste heißt Lubitel, kommt aus der Sowjetunion und kostet 80 Mark. Die Voigtländer Brillant-Kopie vermag allerdings ob ihrer Einfachheit nur technisch interessierten Kindern Freude zu bereiten. In der Preisskala folgen die beiden chinesischen Seagull Modelle 4 B-1 und 4 A-103, zu 150 oder 200 Mark. Die billigere "Möwe" besitzt wie die Rolleicord einen Transportknopf statt der Schnellschaltkurbel und läßt sich mit Hilfe eines Maskensatzes auf das Bildformat 4x5,5 umrüsten. Das dreilinsige Objektiv zeichnet erstaunlich scharf.
Unter 500 Mark konnte der Mittelformat-Anhänger lange Zeit die Yashica Mat 124 G bekommen, leider lief sie 1987 aus. Sie bot ungewöhnlich viel fürs Geld und wartete sogar mit einem eingebauten CdS-Belichtungsmesser auf. Zeit und Blende stellte der Fotograf nach dem Vorbild der Rollei-Spitzenmodelle an separaten, rechts und links zwischen den Objektiven angeordneten Rädchen ein. Die Yashica war gleichzeitig letztes Überbleibsel von zahlreichen japanischen Rollei-Kopien wie Olympusflex und Minolta Autocord. Die Mamiya C-Modelle 220 und 330 mit diesen in einem Atemzug zu nennen, wäre ungerecht, weil dieser Hersteller das Prinzip der Zweiäugigen zeitgemäß weiterentwickelte. Die Welt verlangte spätestens in den sechziger Jahren vehement nach Wechselobjektiven. Rollei schuf in dieser Zeit die Varianten Tele-Rolleiflex (135 mm) und Weitwinkel-Rolleiflex (55 mm), und ließ beim Objektivlieferanten Carl Zeiss spezielle Objektivvorsätze, sogenannte Mutare für die 2,8 F entwickeln. Beides waren eher Verlegenheitslösungen, die mit dem umfangreichen Mamiya-Objektivprogramm, das heute Brennweiten von 55 mm bis 250 mm umfaßt, nicht konkurrieren konnten.
Dennoch schaffte es auch die Mamiya nicht, den Siegeszug der einäugigen Spiegelreflex im Mittelformat aufzuhalten. Die Hasselblad bestimmte immer mehr das Bild und verdrängte die Zweiäugigen. Heute gelten die Mamiya C-Kameras, insbesondere die aufwendigere C 330 als Geheimtip für professionelle Fotografen mit hohem Qualitätsanspruch und schmalem Geldbeutel. Man findet sie, bestückt mit dem fabelhaften 180er, in vielen Porträtstudios und in der Hand von Foto-Design- und Fotografie-Studenten. In der Grundausstattung kostet sie etwa 1300 Mark.
Das Prinzip aller zweiäugigen Spiegelreflexkameras basiert auf der Trennung von Aufnahme- und Sucherobjektiv. Das obere Objektiv bündelt die einfallenden Lichtstrahlen, der starre Spiegel reflektiert sie auf die Mattscheibe im Sucher. Das Sucherbild ist daher seitenverkehrt, aber auch und das ist ein Vorteil - während der Aufnahme sichtbar. Keine Erschütterung verursacht naturgemäß der starre Spiegel, das Auslösegeräusch ist also ungewöhnlich leise. Die Geräuscharmut wird noch durch den mit kleinsten Massen auskommenden Zentralverschluß unterstützt, der jedoch als Handikap nur die 1/500 Sek. als schnellste Verschlußzeit realisiert. Bei geöffnetem Verschluß läßt das unten angeordnete Aufnahmeobjektiv die Lichtstrahlen direkt auf den Film fallen. Es ist allein für die Bildqualität verantwortlich und daher aufwendiger korrigiert als das meist dreilinsige Sucherobjektiv. Zur Fokussierung dient bei den Zweiäugigen die gesamte Objektivplatte mit beiden Objektiven. Sie wird zwecks Entfernungseinstellung über einen seitlich angeordneten Triebknopf mit Hilfe eines Zahnradgetriebes bewegt. Der bei einäugigen Spiegelreflexkameras übliche Schneckengang in den Objektiven entfällt also.
Ein Nachteil dieser Konstruktion ist die knappe Naheinstellgrenze, die schon bei rund einem Meter endet.
Allerdings bilden auch in diesem Punkt die Mamiyas eine Ausnahme. Bei den japanischen Kameras mit Wechselobjektiven wird über den eingebauten Balgen scharf gestellt, der außerdem einen größeren Abbildungsmaßstab als in dieser Kameraklasse üblich, ermöglicht. Darüber hinaus läßt sich bei den Mamiyas über das abblendbare Sucherobjektiv die Schärfentiefe kontrollieren. Die Hauptvorteile des zweiäugigen Prinzips liegen in der Kompaktheit, dem geringen Gewicht und der damit verbundenen Handlichkeit. Das leise Auslösegeräusch ermöglicht in Verbindung mit dem Faltlichtschacht, der nach einiger Übung auch eine Schärfenbeurteilung ohne Klapplupe erlaubt, unbemerkte Aufnahmen aus Hüfthöhe. Die Beschränkung auf nur eine Brennweite hat durchaus erzieherischen Wert und die Wahl des richtigen Standpunkts spielt plötzlich wieder eine Rolle.
Ob ganz billig, variabel oder nobel, eine Begegnung mit dem heute ältesten Mittelformat-Prinzip lohnt sich für den Fotografen auf alle Fälle.
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