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Artikel
1997
Beratung
Welche Leica wählen?
Grundsatzdiskussion
Bei keiner anderen Kameramarke kommt der potentielle Käuferin die Verlegenheit, zwischen drei Modellen einer Preisklasse wählen und sich dabei noch zwischen zwei grundverschiedenen Kleinbildkamera-Typen entscheiden zu müssen. Leica macht's möglich und die Wahl schwer. Meßsucher oder Spiegelreflex, Mechanik oder Elektronik heißen die verlockenden Alternativen in der 5000-Mark-Klasse.
Viele Fotografen neigen dazu, die Qual der Wahl bei den Leica-Kameras gar nicht aufkommen zu lassen. Sie treten die Flucht nach vorn an und lösen das Problem Meßsucher- oder Spiegelreflexkamera mit der knappen, aber befriedigenden Antwort: "Am besten beide." Diese Entscheidung fällt obendrein noch ganz im Sinne der Leica-Geschäftsführung in Solms bei Wetzlar aus, denn die Produktphilosophie des Unternehmens hat sich die Ergänzung beider Kamerasysteme nicht nur aus Gründen der Profitmaximierung auf die Fahnen geschrieben. Beide Kameras ergänzen sich tatsächlich. Die Spiegelreflexkamera spielt ihren Part als Universalgerät von Makro bis Tele, die Meßsucherkamera als Spezialist für Reportagefotografie und Aufnahmen bei schlechten Lichtverhältnissen. Leider ist nicht jedermann, der in der Freizeit und nicht zum Zwecke des Broterwerbs fotografiert, in der Lage, eine Leica, geschweige denn gleich zwei zu finanzieren. Der typische Leica-Käufer hat sich erst mühsam hochgedient, mit japanischen Marken seine Sturm-und-Drang-Jahre unter mehrfachem Wechsel des Systems verbracht, bevor er in die Konsolidierungsphase seines liebsten Hobbys gerät und zur Leica greift. Meist ist es dann eine Spiegelreflex-Leica, weil die Meßsucherkamera auf den ersten Blick altmodisch und kompliziert erscheint. Als Leica-M-Debütant hat man seine liebe Not vor allem mit dem Sucher. Im Gegensatz zum Reflexsucher der Leica R 5 oder R 6, der das Gesehene stets so zeigt, wie es auf den Film gebannt wird, weil der Fotograf über Pentaprisma und Reflexspiegel durch das Objektiv schaut wie beim Fernglas und damit auch Brennweite und Bildausschnitt exakt vermittelt bekommt, sieht der M-6-Fotograf immer den Bildausschnitt des 28-mm-Objektivs und wegen der nicht vorhandenen Mattscheibe obendrein auch noch alles von vorne bis hinten scharf. Ja, er würde es - durch das Prinzip der Sucherkamera bedingt - noch nicht einmal merken, wenn der Objektivdeckel den Lichtstrahlen jeglichen Zugang ins Kameragehäuse verwehren würde.
Das Sucherbild entscheidet
Der Sucher verwirrt zudem obendrein noch durch allerlei Zutaten. Sechs Leuchtrahmen werden jeweils automatisch beim Einsetzen der jeweiligen Brennweite paarweise eingespiegelt: Die Bildfeldbegrenzungen für 28 und 90 mm, 35 und 135 mm sowie 50 und 75 mm erfordern eine gewisse Konzentration und Übung darin, gerade bei Schnappschüssen mit dem richtigen Rechteck zu zielen und nicht versehentlich - wie bei der Spiegelreflexkamera gewohnten ganzen Suchereinblick für das spätere Bild zu berücksichtigen. Im Zentrum des Meßsuchers liegt die Hauptsache, die dem Kind den Namen gibt, der Meßfleck des Entfernungsmessers. Ein Entfernungsmesser macht aus einer einfachen Sucherkamera nämlich erst eine vornehme Meßsucherkamera. Er arbeitet nach dem Mischbildprinzip. Bei falscher Fokussierung durch den Einstellring am Objektiv sieht der Fotograf im Meßfleck ein Geisterbild, eine Doppelkontur, die durch exaktes Fokussieren zur Deckung gebracht werden muß, damit die Schärfe stimmt. Diese anfangs nicht ganz leichte Übung gerät bei schlechten Lichtverhältnissen und bei kurzbrennweitigen Objektiven und Objektiven mäßiger Lichtstärke zum Kinderspiel, also gerade in den Situationen, in denen Mattscheibe und Schnittbildindikator der Spiegelreflexkamera an ihre Grenzen stoßen. Der Hauptunterschied der Kamerasysteme M und R liegt im Sucher. Die Art des Suchers verleiht deshalb der ganzen Kameragattung den Namen. Entweder Reflex- oder Meßsucherkamera, Leica M oder Leica R. Dieser feine, aber gravierende Unterschied bestimmt die Charaktere der Kameratypen Leica R und Leica M so stark, daß man mit Recht von zwei Kameratemperamenten sprechen kann. Die unterschiedliche Mentalität der hochpräzisen Geräte Leica M 6 und Leica R 5 wird schon beim In-die-HandNehmen deutlich. In der Disziplin Handlichkeit sammelt die vergleichsweise kleine und leichte Meßsucherkamera Vorteile gegenüber der Konkurrentin aus dem eigenen Hause. Obwohl das Grundgehäuse der M 6 mit dem ihrer Vorgängerin M 3 von 1954 identisch ist, könnte es nach neuesten ergonomischen Gesichtspunkten in die Hand des Fotografen hineinkonstruiert sein. Sogar der kritische Bio-Designer Luigi Colani zollt der Kamera uneingeschränktes Lob: "Ein Jahrhundertdesign, wie man es nicht besser machen kann. "
Die Meßsucherkamera: leise und kompakt
Klobiger und gewichtiger kommt die R 5 daher, deren Äußeres aber für eine Spiegelreflexkamera ebenso gefällig wie handlich ausfiel. Und zeitlos ist das R-Design obendrein, denn bereits 1980 feierte es in der R 4 mot electronic Premiere, und es wird in der R 6 weiter fortgeführt. Ein weiterer großer Unterschied zwischen M und R-Leica teilt sich akustisch mit. Kaum hörbar läßt die M 6 ihre Umwelt wissen, daß so" eben ein Bild entstand, während dieser Vorgang bei der R 6 zwar immer noch dezent erfolgt, aber deutlich zu vernehmen ist. Der Unterschied ist konstruktiver Natur. Bei der Leica R 5 muß nicht nur der Metallamellen-Schlitzverschluß geöffnet und geschlossen werden, auch der Spiegel muß hochklappen, um den Lichtstrahlen den Weg zum Film freizugeben und in seine Ausgangsstellung zurückkehren, um dem Fotografen den Blick durchs Objektiv wieder zu erlauben. Bei der Leica M6 dagegen arbeitet lediglich der Gummituch-Schlitzverschluß. Die leise Art bestimmt den Charakter der M 6 und deren Aufgabengebiet. Bei Theater und Konzert hat sie sich deshalb ihren festen Platz unter den Rängen der Zuschauer erobert, und als einzige Kamera ist sie in kalifornischen Gerichtssälen zugelassen. Sogar in Kirchen ist sie geduldet. Der Spiegelschlag bedeutet auch jedesmal eine Erschütterung der Kamera, die sich bei Verschlußzeiten ab 1/30 Sekunde bemerkbar macht und zu Verwacklungen führt. Mit der Leica M 6 gelingen selbst Aufnahmen mit 1/4 Sekunde noch aus freier Hand, eine Eigenschaft, die sie zusammen mit den hochlichtstarken M-Objektiven (unter anderen Noctilux 1/50 mm) zu einer idealen Available-Light-Kamera macht. Die Blitzfotografie mit der M 6 gilt jedenfalls nicht nur wegen der langen Synchronzeit von 1/50 Sekunde als verpönt. Weniger kompromißlos in puncto Blitzfotografie gibt sich die Leica R 5, die mit modernem Blitzkomfort aufwartet. Die Blitzbelichtung wird nach TTL-Art auf der Filmoberfläche gemessen und reguliert; Voraussetzung ist der SCA-351-Adapter.
Selektive TTL-Messung bei der Leica M 6
Apropos Belichtungsmessung: Lange hat es gedauert, bis die Leica-Konstrukteure eine integrierte Belichtungsmessung in der klassischen M-Kamera realisieren konnten. Bei der M 6 gelang es, eine selektive TTL-Messung zu verwirklichen. Gemessen wird bei dieser Methode das von einem kreisrunden weißen Meßfleck auf dem Verschlußvorhang reflektierte Licht über eine Silizium-Fotodiode mit vorgesetzter Sammellinse. Der Meßbereich wurde sehr empfindlich gewählt, er beginnt bei Lichtwert 0. In Sachen Belichtungsmessung zeigt sich die R 5 aufwendiger. Sie besitzt genauso wie die R 6 die Leicatypischen umschaltbaren Belichtungsmeßmethoden, mit denen die Leica R 3 1976 debütierte. Der Fotograf kann zwischen der üblichen Großfeld-Integralmessung und der Selektivmessung wählen. Der Kreis des Mikroprismenrasters im Sucher gibt dabei das Meßfeld an. Die Leica R 5 besitzt darüber hinaus mehrere Belichtungsautomatiken. Während der M-6-Fotograf wie auch der R-6-Anwender den Belichtungsabgleich manuell durch das Einstellen von Zeit und Blende über eine Lichtwaage im Sucher vornehmen muß, kann der R-5-Fotograf die richtige Belichtung voll und ganz der Kamera überlassen, indem er die Programmautomatik am Wahlschalter einstellt. Sie funktioniert sinnvollerweise nur mit der Integralmeßmethode, ebenso wie die Blendenautomatik nach Zeitvorwahl. Bei der meistens verwendeten Zeitautomatik stehen dem Fotografen beide Meßmethoden, selektiv und integral, zur Verfügung. Das Nachführsystem, ohnehin für besondere Lichtsituationen geeignet, funktioniert nur in Kombination mit der Selektivmessung. Das gleiche gilt für die Meßwertspeicherung. Darüber hinaus kann man den gemessenen Belichtungswert noch mit der Korrekturtaste, dem Override, beeinflussen. Dies trifft praktisch nur für die Integralmeßmethode zu.
Ein Blick in das Leica-Produkthandbuch mit den lieferbaren Objektiven und dem erhältlichen Zubehör macht die Unterschiede zwischen R- und M-Leica in der Anwendung deutlich. Die M-Objektivpalette reicht lediglich von 21 bis 135 mm, das R-Spektrum erstreckt sich vom 15-mm-Extremweitwinkel bis zum 800-mm-Tele, inklusive spezieller Shift-, Makro- und Varioobjektive. In extremen Brennweitenbereichen, gerade bei Fernaufnahmen sowie bei großen Abbildungsmaßstäben, beweist sich die Überlegenheit der Spiegelreflexkamera, spätestens seit es den Visoflex-Spiegelkasten, der die Meßsucherkamera in eine Spiegelreflexkamera verwandelte, nicht mehr gibt. Speziell in diesen Bereichen ist die vollständige Kontrolle über das tatsächliche Sucherbild unverzichtbar. Auch bei der Blitzfotografie schlägt die Stunde der R-Leicas.
Die R5 bietet mehr als die R6
In der alltäglichen Fotografie konkurrieren beide Systeme miteinander. Hier profitiert die M 6 von ihrer Handlichkeit und ihrer leisen Auslösung, gerade wenn es um unauffällige Schnappschüsse geht. Die Meßsucherkamera gilt auch als ideale Reportagekamera; der großflächige Sucher und hochlichtstarke Weitwinkelobjektive ermöglichen hautnahe Aktionsfotografie, die im Gegensatzazur den distanzierten Teleperspektiven der Spiegelreflex steht. Doch wie gesagt, beide Kameratypen konkurrieren miteinander, eine motorisierte Spiegelreflex löst die Reportageaufgabe genau so gut, wie die M 6 das gestaltete Porträt mit dem 90-mm-Objektiv meistert.
Das M-6-Flair wird maßgeblich von traditionellen, ja sogar irrationalen Gesichtspunkten geprägt, die weniger mit Fotografie als mit Mythos und Feinmechanik zu tun haben. Für viele ist nur sie die einzig wahre, echte Leica, direkter Nachfahre der Barnack-Konstruktion, Werkzeug berühmter Fotografen, Inbegriff von "Made in Germany" und einmalig in der Welt. Das Werkzeug zum Bildermachen wird zum Selbstzweck, das Prestige der Kamera entscheidet über das Ansehen des Fotografen.
Die Spiegelreflex-Leica R 5 lebt nicht vom Mythos, sondern von der hohen Verarbeitungsqualität, der unübertroffenen optischen Leistung der Leica-Objektive und der praktischen Wahlmöglichkeit von Selektiv- und Integralmessung. Diese Eigenschaften finden sich sowohl bei der elektronisch gesteuerten R5 als auch bei der mechanischen R6. Hat man die Grundsatzentscheidung M-Leica oder R-Leica zugunsten der Reflexmodelle getroffen, sprechen rationale Gründe für die R5. Sie bietet deutlich mehr Kamera fürs Geld, überzeugt durch Programmvielfalt und Bedienungskomfort und ist überdies 900 Mark billiger als die R6, die wie die M6 auf traditionelle Werte wie "Made in Germany" und Mechanik abzielt. W. Müller, Mitglied der Leica-Geschäftsführung, formuliert es so: "Die Leica R 5 ist der S-Klasse-Mercedes und die R 6 der Range-Rover unter den Kameras."
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