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Artikel

1997

Test & Technik

Canon EOS-10

Generationswechsel

Im letzten Heft brachte COLOR FOTO exklusiv die ersten Meldungen über Canons neue Wunderwaffe, die EOS-10. Inzwischen konnten wir die Kamera einer ersten Technik-Analyse unterziehen. Der Eindruck: High-Tech in Perfektion.

Die Morgenröte am Autofokus-Horizont, die sich mit der Einführung des EOS-Systems zögernd ankündigte, ist inzwischen einem strahlenden Sonnenaufgang gewichen. Mit der neuen EOS-10 kommt ein technisches Wunderwerk auf den Markt, das in der innovationsfreudigen Fotobranche seinesgleichen sucht. Diese Kamera kann nicht nur mit Hilfe eines Barcode-Lesers Kreativprogramme aus einer Motivfibel ablesen und in den eigenen Datenprozessor eingeben; sie stellt sogar über einen integrierten Sensor den Zitterfaktor des Fotografen fest und verhindert automatisch, zur Vermeidung von Verwacklungsunschärfen, die Einstellung einer Verschlußzeit, die länger als 1 geteilt durch Brennweite ist. Über eine Custom-Funktion zu individuellen Programmierung kann die Sperre von längeren Belichtungszelten vom Fotografen aufgehoben werden. Das neuartige AF-System analysiert in einer Drei-Punktmessung die Bewegungsgeschwindigkeit eines anvisierten Objekts und stellt die Schärfe bis zum Augenblick der Verschlußöffnung nach.

Drei AF-Meßfelder statt AF-Speicher

Außerdem besitzt die EOS-10 drei Autofokusmeßfelder, die entweder automatisch aktiviert werden oder sich vom Fotografen manuell über Tastendruck und Drehung am elektronischen Einstellrad frei wählen lassen. Statt der bisher bei EOS-Kameras üblichen sechs Meßfelder berücksichtigt die neue EOS-10 acht Bildsegmente bei der Belichtungsmessung. Für schlechte Lichtverhältnisse hat die EOS-10 ein Blitzlicht und ein Rotlicht zur Unterstützung des Autofokussystems eingebaut. Dabei wird der Infrarot-Hilfsblitz automatisch auf das gerade aktivierte AF-Meßfeld ausgerichtet. Nie zuvor war das Schlagwort von der künstlichen Intelligenz der Computersteuerungen moderner Kameras zutreffender als bei der neuen EOS-10. Zwar reicht die künstliche Intelligenz auch heute noch nicht aus, um gute Bilder zu machen; sie unterstützt den Fotografen aber nicht nur in bezug auf die technische Qualität seiner Fotos, sondern auch beim kreativen Einsatz von Verschlußzeit und Blende als motivbezogene Gestaltungsmittel. 
Solche Kreativprogramme sind nicht neu. Minolta hatte sie seinerzeit mit den Chipkarten als Zubehör zur Dynax 7000i eingeführt. Canon integrierte sie bei der EOS 600 in begrenzter Zahl in die Kamera. Für die neue EOS-10 bietet Canon zusätzlich zu den vier über die Wählscheibe an der Kamera einstellbaren Motivprogrammen in einer kleinen Motivfibel mit Beispielfotos 23 weitere Kreativprogramme an, die sich über einen kleinen mitgelieferten Lesestift in die Kamera eingegeben lassen. Die bisher 23 Programme sollen im Laufe der Zeit ständig erweitert werden. Doch was bringen solche Programme dem Fotografen für die Praxis? Kann er nicht einfach durch manuelle Eingabe oder, besser noch, durch entsprechende manuelle Programmverschiebung in der P-Einstellung die gleichen Effekte erreichen? Im Prinzip ist das selbstverständlich möglich, doch setzt dies viel Erfahrung und Wissen über die Auswirkungen von Verschlußzeit und Blende auf die Bildgestaltung voraus. Hinzu kommt die Einschätzung der Blitzwirkung, der Einfluß der gewählten Brennweite, der Motivdistanz und des Abbildungsmaßstabs. Nicht zuletzt spielt beim ständigen Kompromiß zwischen Gestaltungswillen und den Beschränkungen, die sich durch die Forderung nach hoher technischer Abbildungsqualität ergeben, auch eine wesentliche Rolle, ob die Kamera auf dem Stativ steht oder ob aus der Hand fotografiert wird. In jedem Motiv sind alle Variablen wieder neu gemischt und die Prioritäten neu gewichtet. Aus diesem Wechselspiel von Motivbedingungen und eingesetzter Kameraeinheit muß für die gewünschte Bildwirkung eine optimale Zeit-Blenden-Kombination gewählt werden. Diese Wahl nun trifft bei der EOS-10 die Kamera selbst.
Der Kameracomputer kennt die Entfernungseinstellung. Er hat Objekt und Umgebungshelligkeit durch eine Achtfeldmessung analysiert. Ihm ist die verwendete Brennweite bekannt, und er kennt nun auch über den Barcode die erwünschte Bildwirkung. Er weiß, ob ein großer oder ein kleiner Schärfenraum erwünscht ist. Er weiß, ob Bewegungen eingefroren oder verwischt wiedergegeben werden sollen, und er schließt aus all diesen Fakten blitzschnell einen Kompromiß zwischen der erwünschten Bildwirkung und optimaler Abbildungsqualität, der oftmals selbst erfahrenen Fotografen nicht auf Anhieb gelingt. Über die Barcode-Eingabe teilt der Fotograf dem Kameracomputer auf kinderleichte Weise die gewünschte Bildwirkung mit, und schon setzt die Kamera diese Wünsche in die Tat um - allerdings nur soweit es ohne Einbußen an Wiedergabequalität möglich ist, die immer an erster Stelle steht. Damit erspart die EOS-10 dem Fotografen zahlreiche Enttäuschungen und ermöglicht es auch unerfahrenen, technisch weniger versierten Fotografen, effektvolle Bilder zu realisieren.

Programmierung über Strichcode

Die Eingabe des Programmwunsches ist denkbar einfach. In der EOS-Foto-Fibel sucht sich der Fotograf ein Bild aus, dessen Stimmung seinem Motiv und seinen Gestaltungswünschen entspricht. Unter dem Bild wird in einer Reihe der Brennweitenbereich angegeben, der sich für Aufnahmen mit der gewünschten Wirkung am besten eignet. Ein Punkt markiert zusätzlich die Brennweite, die für das Beispielbild verwendet wurde und für den Motivbereich als optimal eingeschätzt wird. Weiterhin wird angegeben, ob Blitzeinsatz erforderlich ist, welche Filmempfindlichkeit für ideal angesehen wird und ob die Kamera auf ein Stativ gestellt werden sollte oder nicht. Direkt unter dem Foto befindet sich ein sogenannter Strichcode, wie er auch auf jedem Supermarkt-Produkt zum schnellen automatischen Einlesen des Verkaufspreises in die Ladenkasse aufgedruckt ist. Über diesen Strichcode fährt der Fotograf mit seinem Lesestift. Danach wird der Stift umgedreht an den Barcode-Empfänger gedrückt, um das Programm in die Kamera zu laden. Es bleibt solange erhalten, bis es erneut überschrieben wird. Dabei kann der Fotograf jederzeit beliebig zwischen allen kameraseitig vorhandenen Programmen wechseln. Stellt er auf das Barcode-Programm zurück, ist das zuletzt eingegebene aktiv. Bei der Verwendung eines Barcode-Programms kann der Fotograf zwar die automatisch eingestellten Werte von Verschlußzeit und Blende ablesen, er kann sie jedoch nicht mehr beeinflussen. Leider läßt sich der Lesestift nicht am Kameragurt befestigen, so daß bereits vorauszusehen ist, daß Canon mit Nachbestellungen hier ein gutes Geschäft machen wird.
Noch sensationeller als die Programmeingabe über Barcode sind die einzeln schaltbaren drei Meßfelder des AF-Systems. Entweder bestimmt das AF-System automatisch nach Analyse der Motivsituation, welches der drei Meßfelder für die Entfernungseinstellung maßgebend ist, oder der Fotograf kann nach Druck auf die Meßfeldtaste auf der Rückseite der Kamera selbst das Meßfeld wählen. Allerdings ist die freie Wahl des Meßfeldes nicht in allen Automatikprogrammen möglich. Diese Einrichtung ist vor allem für die Praxis von großer Bedeutung. Es wird nicht mehr automatisch zwischen zwei Personen hindurch auf den Hintergrund scharfgestellt.

Autofokus auch für den Bildrand

Gerade bei Action-Aufnahmen war es bisher immer Voraussetzung, daß sich das Hauptmotiv in der Bildmitte befinden mußte - eine langweilige Bildaufteilung, die sich nun erübrigt. So kann ich zum Beispiel beim Start eines 100-Meter-Rennens den rechten Sensor aktivieren und eine wirkungsvollere Bildaufteilung wählen, bei der die Läufer in das Bild hineinzuspringen scheinen. Auch Autorennen oder ähnliche Motive lassen sich so besser gestalten.

Sportreporter atmen auf

Vor allem Sportreporter waren bisher AF-Systemen gegenüber skeptisch eingestellt. Sie waren es gewöhnt, über die Mattscheibe scharfzustellen, in welcher Bildpartie auch immer sich ihr Hauptmotiv gerade befand. Autofokus zwang sie zur Plazierung des Objekts in der Bildmitte. Hier erlaubt die EOS-10 jetzt Alternativen.
Besonders angenehm ist die Beleuchtung der jeweils aktiven Meßfelder. Der mittlere Sensor entspricht in seinem Aufbau dem Cross-Type-Sensor der EOS-1 und kann auch auf waagerechte Strukturen und Linien scharfstellen. Dadurch wird zusätzlich der Wechsel von Hoch- auf Querformat erleichtert. Als extrem schnell und nahezu lautlos erwiesen sich die neuen Canon-EF-Objektive mit Ultraschallmotoren. Drei Zoomobjektive der neuen Generation, die zu auch für Amateure erschwinglichen Preisen auf den Markt kommen sollen, wurden angekündigt. Die neue Objektiv-Generation wird den Datenaustausch zwischen Kamera und Objektiv noch erhöhen und so die Möglichkeiten der Programmierungen über Barcode oder innerhalb der integrierten Motivprogramme erweitern.

Ultraschall macht den Motor schneller

Möglich wurde die Preissenkung bei den USM-Objektiven durch neue Entwicklungen für die Serienfertigung dieser Motoren. Dies läßt auch hoffen, daß es diesmal nicht zu den so unerfreulichen Lieferengpässen kommen wird, wie bei der Einführung des EOS Systems.
Fraglos ist die EOS-10 die technisch vielseitigste Kamera der Autofokus-Generation. Nur ihre wichtigsten Eigenschaften konnten in dieser ersten Testanalyse gestreift werden. Mit Sicherheit wird diese Kamera erneut die Diskussion über die Frage anheizen, wieviel Technik für ein gutes Foto sinnvoll ist. Zweifellos bietet die Canon EOS-10 genügend Ausstattungsmerkmale, um ein richtig belichtetes und scharfes Foto zu produzieren. Sie enthebt den Fotografen dennoch nicht seiner wichtigsten Funktion, nämlich der, gute Bilder zu machen. Die EOS-10 wirft außerdem die Frage auf, wie sie Canon innerhalb der EOS-Palette plaziert. Technisch hat sie zwar das Zeug zu einem Spitzenmodell, aber diesen Part übernehmen bereits EOS-1 und EOS RT.
Ich bin der Meinung, daß ein guter Fotograf mit jeder Kamera hervorragende Bilder machen kann. Sogar mit einer einfachen Lochkamera. Doch warum sollte er auf die Faszination eines High Tech-Produktes wie der EOS-10 und den Spaß, mit ihr zu fotografieren, verzichten? Zumal die Kamera mit etwa 1100 Mark durchaus erschwinglich ist.

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