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Artikel
1997
Test & Technik - Praxisbericht
Betagter Revoluzzer
Rolleiflex 6008 im Einsatz
Wenn im Mittelformat von "Revolution" gesprochen wird, dann ist eine eher gemächliche Modellpflege gemeint. Als vor drei Jahren die Rolleiflex 6008 auf den Markt kam, ging die Rede von der "Revolution im Mittelformat" um. Heute ist die Rolleiflex 6008, trotz neuer Konkurrenz aus Göteborg, immer noch die Mittelformatkamera mit den meisten elektronischen Ausstattungselementen. Ein Grund mehr, sie in einem Praxisbericht zu prüfen.
Im Hause Rollei hat die Modellpflege Tradition. Die Rolleiflex 6008 ist ein gutes Beispiel dafür. Ihre Genealogie reicht ins Jahr 1974 zurück, als die Rolleiflex SLX auf der photokina vorgestellt wurde. Die direkte Abstammung der 6008 leitet sich jedoch von der 6006 Modell 2 ab. Ausgestattet mit dem Bedienungskomfort und den Features einer Kleinbild-Spiegelreflexkamera, ermöglicht die Rolleiflex 6008 sowohl die im Mittelformat, als auch bei ausgeprägtem Bizeps - die im Kleinbild übliche Arbeitsweise. Bei unserem umfangreichen Praxisbericht haben wir drei Rolleiflex-6008-Gehäuse und die Objektive Distagon 4/40 mm, Distagon 4/50 mm, zwei Planare 2,8/80 mm, Xenotar 2,8/80 mm, Tele-Xenar 4/150 mm sowie das Tele-Xenar 2,8/180 mm eingesetzt.
Programmautomatik und Belichtungsmeßarten
Wer unbeschwert fotografieren will, schaltet die Programmautomatik ein, indem er sowohl Blendenring als auch Zeiteinstellrad in der A-Position arretiert, was ebenso einfach wie logisch ist. Um die Verwacklungsgefahr zu vermindern, ist die Programmautomatik kurzzeitorientiert. Das bedeutet nichts anderes, als daß, wie der Programmcharakteristik zu entnehmen ist, lediglich eine Vorrangschaltung für die 1/125 Sekunde so lange besteht, bis der Blendenbereich unter oder überschritten wird.
In der Fotopraxis gewinnt die Programmautomatik aber an Bedeutung im Zusammenhang mit drei ausgeklügelten Meßmethoden. Der Fotograf kann zwischen Mehrzonen-, Spot- oder Multispotmessung wählen. Die Programmautomatik funktioniert in der Regel mit allen drei Meßarten ausgezeichnet.
Die Meßzonen bei der Mehrzonenmessung sind gut plaziert und gut gewichtet, so daß Motive mit normalem Kontrast besonders in den Automatikfunktionen auf einfache Weise richtig belichtet werden.
Bei schwierigen Lichtverhältnissen und wichtigen Motiven ist die Belichtungsreihenautomatik gerade in Verbindung mit der Programmautomatik und der Mehrzonenmessung zu empfehlen. Die Belichtungsreihenautomatik liefert zusätzlich zum gemessenen Wert noch zwei um jeweils + 2/3 EV und - 2/3 EV abweichenden Belichtungen. Der Ausgangspunkt der Belichtungsreihenautomatik kann durch die Belichtungskorrektur verändert werden, was besonders bei Gegenlichtaufnahmen oder bei einer Tendenz der Kamera zur Fehlbelichtung eine zusätzliche Hilfe bietet.
Mit der Spotmessung können wichtige Motivteile gezielt angemessen werden - vorausgesetzt, sie sind groß genug. Der Meßwinkel von 3xGRADx bei einer Brennweite von 80 Millimetern reicht jedoch in den meisten Fällen aus. Eine punktgenaue Messung, die beispielsweise im Zonensystem unerläßlich ist, wird allerdings nicht immer möglich sein, doch das ist auch bei der Hasselblad 205 TCC problematisch. Für die Preisdifferenz zur 205 TCC kann man sich aber rein rechnerisch zwölf 1xGRADx-Spotmeter kaufen. Der Meßwert bei der 6008 kann gespeichert werden, so daß die Spotmessung auch dann in der Programmautomatik eingesetzt werden kann, wenn sich das angemessene Detail außerhalb der Bildmitte befindet.
Eine besondere Raffinesse ist jedoch die Multispotmessung. Die Rolleiflex 6008 kann aus bis zu fünf einzelnen Spotmessungen per Tastendruck automatisch einen Mittelwert bilden. Bei korrekter Auswahl der angemessenen Details können kontrastreiche Motive ausgewogen belichtet werden. Allerdings sollte man die Multispotmessung mit dem Einstellrad auf der linken Seite des Gehäuses nur bei eingeschalteter Kamera aktivieren. Wenn man nämlich die 6008 bei aktiviertem Multispot einschaltet, wird bereits die Reflexion der Fläche, auf der sich die Meßzone zufällig befindet, als erster Meßwert gespeichert. Das kann die empfindliche Balance zwischen den einzelnen Spotmessungen stören und zu Fehlbelichtungen führen.
Zeitautomatik
Wer die Schärfentiefe als Gestaltungsmittel gezielt einsetzen will, kann sich der Zeitautomatik bedienen, indem er das Zeiteinstellrad in der "A"-Position arretiert. Die Kamera bildet dann automatisch die Verschlußzeit in Abhängigkeit von der vorgewählten Blende. E' stehen selbstverständlich alle drei Meßmethoden zur Verfügung. Sie können je nach Motivkontrast und Lichtverhältnissen gewählt werden.
Eine große Blendenöffnung und ein Teleobjektiv arbeiten das Hauptmotiv vor dem unscharfen Hintergrund heraus. Die Mehrzonenmessung mit einer Belichtungskorrektur von + 2/3 EV führte zu einer ausgewogenen Belichtung sowohl des Hauptmotivs als auch des Hintergrunds. Die Belichtungskorrektur war bei leicht erhöhtem Motivkontrast notwendig, obwohl das Hauptmotiv eigentlich von den drei stärker gewichteten Meßzonen erfaßt wurde.
Blendenautomatik
Wer auf einfache Weise Bewegungsmomente einfrieren beziehungsweise unscharf wiedergeben oder auch nur verwacklungssicher fotografieren möchte, findet in der Blendenautomatik eine wertvolle Hilfe. Wenn der Blendenring in der "A"-Position arretiert ist, steuert die Kamera, von der eingestellten Verschlußzeit ausgehend, automatisch die passende Blende. Auch in dieser Funktion hat man die Wahl zwischen den drei Meßmethoden.
Manuelle Einstellung
Für Aufnahmen unter besonderen Lichtbedingungen oder bei gezielten Belichtungseffekten ist die manuelle Einstellung von Blende und Verschlußzeit die geeignete Arbeitsweise.
Bei den meisten Motiven kann man aber mit der internen Spotmessung gut arbeiten. Beispielsweise
Die Rolleiflex 6008 hat als einzige Kamera überhaupt eine manuelle Einstellung der Blende und der Verschlußzeit in Drittelstufen. Das suggeriert eine Genauigkeit, die durch einige Faktoren aber relativiert wird. Zwar gibt die DIN-Norm, die wohl noch aus der Zeit rein mechanischer Kameras stammt, eine Belichtungstoleranz von -2/3 Belichtungsstufen an, doch das ist heute eigentlich überholt. Alles, was innerhalb dieser Toleranz liegt, gilt demnach als richtig belichtet, obwohl zwischen den einzelnen Aufnahmen ein Unterschied von 4/3 Blendenstufen bestehen kann. Von unseren drei Testkameras, mit dem Fujichrome Velvia geladen, belichtete eine um 2/3 EV und die anderen zwei um 1/2 bis 1/3 EV zu knapp. Mit dem Ektachrome 64X verringerte sich die Tendenz zur Unterbelichtung bei allen drei Kameras um fast 1/3 EV. Diese Faktoren haben wir bei der zweiten Serie unserer Testaufnahmen berücksichtigt, was uns dann tatsächlich ermöglichte, die Endergebnisse auf 1/3 EV genau vorauszuplanen.
Handhabung
Man merkt es der Rolleiflex 6008 sofort an, daß sie bereits die dritte Generation einer Kameraserie für Profis ist. Sie ist buchstäblich in die Hand gebaut. Die Anordnung der Bedienungselemente hat ihre Wurzeln im alltäglichen Profi-Einsatz und ist folglich sehr praxisnah konzipiert. Der einzige Kritikpunkt hier wäre die etwas grobe Bedienung des Zentralschalters, über den Einzel-, Serienaufnahmen und Belichtungsreihen einzustellen sind.
Ansonsten ist an alles gedacht: Spiegelvorauslösung, Abblendtaste, Bedienungsknopf für Mehrfachbelichtungen, Zubehörschuh, Ersatzsicherung im Akku, Verriegelung des unteren Auslösers (verhindert unter anderem versehentliches Auslösen beim Ausrichten der Kamera auf dem Kugelkopf), ja sogar ein Gewinde für gewöhnliche Drahtauslöser ist vorhanden. Eine geniale Erfindung ist der Funktionshandgriff mit Handschlaufe. Er läßt sich, je nach Kamerahaltung und Sucheraufsatz, in vier Stellungen arretieren. Ihm ist es zu verdanken, daß die 6008, trotz ihres hohen Gewichts (eigentlich ist sie aber kaum schwerer als die Hasselblad 205 TCC mit angesetzem Winder), auch bei Freihandaufnahmen einfach zu halten und zu bedienen ist.
Ebenso einfallsreich ist die Konstruktion des Laminar-Rollos. Es macht das im Mittelformat übliche ständige Suchen des Magazinschiebers überflüssig. (Böse Zungen behaupten, der Magazinschieber sei das meistgekaufte Ersatzteil im Hasselblad-System.) Auch bei Freihandaufnahmen mit Lichtschachtsucher bei leichtgängigen Laminar-Rollos oft vor, daß der Auslöser blockiert. Die Ursache ist aber schnell entdeckt: Wenn die Kamera am Oberkörper gehalten und ausgerichtet wird kommt es auch bei Fotografen ohne Bierbauch vor, daß sich der Griffsteg für das Laminar-Rollo leicht nach oben verschiebt, was das beschriebene Symptom hervorruft.
Vermischtes
Die Sucheranzeigen sind gut ablesbar und informieren über alle wesentlichen Daten. Das Sucherbild ist, besonders mit den neuen Einstellscheiben, erfreulich hell. Die Belichtungskorrektur reicht von - 4 2/3 bis zu + 2 EV. Die Minuskorrektur von fast 5 Lichtwerten ist keineswegs überflüssig. Sie macht es möglich, Magazine der Rolleiflex 6006, die keine Übertragung der Filmemfindlichkeit besitzen, problemlos bei der 6008 zu verwenden: Die in diesem Fall automatisch eingestellte Empfindlichkeit von ISO 100/21xGRADx kann bis zu einem Wert von ISO 2500/35xGRADx korrigiert werden. Am anderen Ende der Skala, ermöglicht die Pluskorrektur, Filme mit einer Empfindlichkeit von ISO 25/15xGRADx einzusetzen. Der integrierte motorische Filmtransport schafft zwei Bilder pro Sekunde. Dabei ist er samt Spiegelschlag so laut, daß nicht nur Tauben und Kleinkinder erschreckt, sondern auch Passanten den Kopf umdrehen und soviel Professionalität bewundern.
Pro und Kontra
PRO
+ durchdachte, praxisgerechte Konzeption
+ genau arbeitende Automatikfunktionen
+ drei hervorragende Meßmethoden
+ Belichtungsreihenautomatik
+ ausgezeichnete Handhabung
+ Laminar-Rollo
+ umfangreiches Systemzubehör
+ solide und präzise verarbeitet
KONTRA
- hohes Gewicht
- Spiegelschlag und Winder verhältnismäßig laut
- Zentralschalter schwergängig
- Akkus laden sich relativ schnell aus
Fazit
Bei der Rolleiflex 6008 sind die zahlreichen technischen Ausstattungsmerkmale kein Selbstzweck, wie man es bei einigen anderen High-Tech-Kameras vermuten könnte, sondern sinnvolle und praxisgerechte Hilfen für seriöse Fotografen. Erfrischend dabei ist, daß die Features nur dort helfen, wo es auch wirklich erwünscht ist, und das, ohne dem Fotografen das Denken abzugewöhnen. Aufgrund ihrer durchdachten Konzeption und ihrer sehr guten Gesamtleistung erhält die Rolleiflex 6008 das COLOR FOTO-Prüfsiegel Praxisbericht sehr gut****.
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