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Artikel

1997

Beratung

Teure Alternative zu gewöhnlichen Kameras: Leica R-E

E - wie Erlebnis

Als Einsteigermodell in das Leica-R-System konzipiert, soll die R-E neue, jüngere Käuferschichten an die Marke binden. Nüchtern betrachtet, kann die Leica R-E wenig und kostet viel, aber genau darin liegen der Reiz der Kamera und die Chance des Fotografen, zu besseren Bildern zu gelangen.

Lassen wir Mythos, Markennamen und Tradition der Marke Leica einmal bewußt beiseite und konzentrieren uns nur auf die neue Kamera, die Leica R-E, die wir gänzlich unvoreingenommen von Preis und Prestige im Alltag benutzen wollen. Lassen wir auch die vielen Vorurteile von jüngeren Fotografen unbeachtet, die häufig meinen, Leicas seien überteuert, technisch veraltet und nur etwas für Leute ab vierzig aufwärts. Betrachten wir die Leica R-E als das, was sie in Wirklichkeit ist: ein technisches Gerät, um einen Film zu belichten, dem wir später unsere Fotos entnehmen. Wir wollen prüfen, ob sie dieser Funktion unter allen Aspekten gerecht wird. Das Fotografieren mit einer neuen Kamera beginnt meist als Trockentraining. Noch bevor ein Film eingelegt ist, nimmt der Fotograf die Kamera in die Hand, nimmt sie ans Auge, blickt durch den Sucher, spannt dabei gleichzeitig den Verschluß und löst erst einmal aus. Mit der Leica R-E geht es uns nicht anders.
Vor dem In-die-Hand-Nehmen würdigt man, vielleicht halbwegs unbewußt, das Design des Apparates, der uns ja ständig begleiten soll und den wir sicher um so lieber benutzen, wenn er uns gefällt. Optische Aspekte sind zwar Geschmackssache, doch gibt es im Design einige Grundregeln des Gefallens, denen die Leica R-E voll und ganz entspricht. Obwohl die Gestaltung der Kamera bis auf wenige Details bereits Ende der siebziger Jahre entstand, gefällt sie heute noch so wie damals. Ihre harmonische Formgestaltung mit der abgerundeten Prismenkappe erfüllt alle Anforderungen der Zeitlosigkeit. Nimmt man die R-E zur Hand, so fällt ihr Gewicht angenehm auf. Nicht, daß sie zu schwer wäre, aber sie ist schwer genug, um ein solides QualitätsgefÜhl zu vermitteln. Der Messing-Bodendeckel, die Aluminium-Magnesium-Prismenkappe und das Gehäuse aus Leichtmetall-Druckguß haben jeglichen Kunststoff, sei er auch noch so raumfahrterprobt und flugzeugbewährt, auch bei der für Leica-Verhältnisse preiswerten R-E erfolgreich verdrängt. Kunststoff tritt nicht als Baumaterial, sondern als Garnierung für Bedienungselemente und Armierung auf. Auch der nächste Schritt, der Blick durch den Sucher, trägt dazu bei, den bisher angenehmen Eindruck, den wir von dieser Kamera gewonnen haben, zu vertiefen. Das Sucherbild ist angenehm hell und wird durchaus als brillant empfunden, wobei die Einstellscheiben von 1000-DM-Autofokus-Kameras in dieser Disziplin jederzeit mithalten können. In der Mitte der sehr feinkörnigen Mattscheibe, deren Helligkeit auch in Verbindung mit dem mäßig lichtstarken Summicron 2/50 mm befriedigt, befinden sich die Einstellhilfen Mikroprismenring und Schnittbildindikator, der äußere Ring des Mikroprismenrasters markiert gleichzeitig das Feld der Selektivmessung. In vielen Prospekten wird der Sucher als Kommando- oder Informationszentrale bezeichnet, die den Fotografen darüber informiert, was eingestellt ist und was die Kamera gerade selbsttätig macht, falls sie über eine Belichtungsautomatik verfügt. Solche Kommandozentralen moderner High-Tech-Kameras muten oft wie wahre Reizüberfluter an. Bei der Leica R-E ist alles schön übersichtlich gestaltet, nicht zuletzt wegen der überschaubaren Kamerafunktionen, die sich leicht mit den Fingern einer Hand abzählen lassen: Zeitautomatik, Nachführsystem, Spotmessung, Integralmessung und TTL-Blitzmessung auf der Filmebene sind die wesentlichen Ingredienzen dieser Kamera. Deshalb reicht auch die LED-Kette am rechten Bildrand, welche die Verschlußzeiten von einer Sekunde bis zur 1/1000 Sekunde signalisiert, als Hauptinformationsquelle aus. Daneben zeigt der Sucher die eingestellten Werte für Blende und Zeit an, informiert über die Art der Belichtungsmessung (selektiv oder integral), warnt vor Über- oder Unterschreitung des Meßbereichs und kündigt bei Verwendung eines Systemblitzgerätes die Blitzbereitschaft an. Ob der Fotograf nun die manuelle Meßmethode oder die Zeitautomatik am Programmwähler eingestellt hat, erfährt er ebenfalls im Sucher. Fehlsichtige, die ohne Brille fotografieren, sollten den Sucher anhand der Dioptrieneinstellung auf ihr Sehvermögen regulieren.
Das Fotografieren beginnt mit dem Filmeinlegen, eine Prozedur, die Umsteigern auf die Leica R-E, insbesondere dann, wenn sie vorher eine moderne Hightech-Kamera besaßen, zunächst Mühe bereitet. Eine automatische Filmeinfädelung sucht man ebenso vergebens wie eine DX-Abtastung, die aber nicht so zwingend nötig ist, weil ein Filmsichtfenster in der Rückwand stets über Art und Empfindlichkeit des eingelegten Materials informiert. Einfädeln nach alter Väter Sitte ist also angesagt, und selbst das geschieht vergleichsweise mühsam. Ein kleiner Tip: Zuerst die Filmlasche in die Aufwickelspule stecken und dann die Patrone einlegen. Nach dem Schließen der Rückwand stellt sich der Fotograf die bange Frage, ob man mit der R-E überhaupt ohne große Umstände fotografieren kann. Action-Aufnahmen ohne integrierten Winder, wie soll das funktionieren? Bilder schnell bewegter Objekte ohne Autofokus, ist doch unmöglich, oder? Schnappschüsse ohne Programmautomatik, sind die nicht zum Scheitern verurteilt? Sportfotos ohne Blendenautomatik, ein Unding? Optimal belichtete Fotos ohne mindestens Sechsfeld-Messung in Kombination mit Belichtungsreihenautomatik, gar nicht daran zu denken. Ja genau, Denken heißt das Stichwort im Umgang mit der Leica R-E. Die fehlende Blendenautomatik läßt sich entweder durch Vorwahl einer großen Blende im Modus Zeitautomatik oder durch die Einstellung einer kurzen Verschlußzeit beim Manualmodus kompensieren. Erstaunlich hohe Bildfrequenzen meistert man im geschicktem Umgang mit dem Schnellschalthebel, dessen seidenweiche Kugellagerung und ergonomische Anbringung in angewinkelter Stellung zur forcierten Benutzung geradezu einlädt. Auch das Fokussieren mit den Leica-Objektiven macht vom Gefühl her Freude, die Leichtgängigkeit der Einstellschnecke definiert den idealen Mittelweg zwischen zu leicht und zu fest, Scharfstellen gelingt so exakt und unterstützt vom hellen Sucherbild mit seinen Fokussierhilfen auch schnell, wenn auch nicht so schnell wie bei Autofokus. Belichten nach der Schrotschußmethode, sprich Bracketing, hat der Leica-R-E-Fotograf nicht nötig. Schon nach konzentrierter Lektüre der vorbildlichen Bedienungsanleitung kennt er die Geheimnisse des Leica-Belichtungsmeßsystems, die er mit dem Programmwähler vor der Auslösetaste in die Praxis umsetzt. Für Motive ohne große Lichtkontraste reicht die Zeitautomatik mit mittenbetonter Integralmessung völlig aus, das Symbol im Sichtfenster zeigt ein A in einem Rechteck. Angenommen, man will ein Motiv vor einem hellen oder dunklen Hintergrund oder beispielsweise ein Porträt im Gegenlicht aufnehmen, dann schaltet man den Programmwähler auf das Symbol des A im Kreis und mißt die bildwichtige Partie an. Falls sich der relevante Bildteil nicht in der Mitte des Suchers befindet, so läßt sich der dort ermittelte Meßwert durch festhalten des Auslösers bis zu 30 Sekunden lang speichern. Bei manuellem Abgleich mißt die Kamera zwangsläufig selektiv, weil dieser Modus meist dann gewählt wird, wenn der Fotograf möglichst großen Einfluß auf die Belichtung nehmen will. Außerdem steht noch die Override-Einrichtung für generelle Belichtungskorrekturen von plus/minus zwei Blendenstufen zur Verfügung. Intelligent genutzt, meistert dieses kleine, aber wirksame und jederzeit überschaubare Repertoire der RE-Belichtungsmeßtechnik jede Lichtsituation, auch ohne das Einlegen von Chipkarten oder Anwählen von Motivprogrammen.
Schon nach kurzer Eingewöhnungszeit hat man das Gefühl, die Kamera zu beherrschen, sie wird einem sogar außerordentlich schnell vertraut. Ihr sympathisches Handling, verbunden mit dem ansprechenden Design und den wenigen überschaubaren Bedienungselementen, verleihen ihr das Attribut sympathisch, zu dem sich noch der Eindruck gesellt, etwas Wertvolles, Langlebiges zu besitzen. Wer glaubt eine solche, vergleichsweise simple Kamera- simpel bezieht sich hier auf die Zahl der Ausstattungsmerkmale - verleite zum Knipsen, der sieht sich angenehm getäuscht. Selten probierte der Autor eine Kamera-Neuerscheinung so intensiv, machte er so häufig von der manuellen Einstellung Gebrauch, selten wurde der Wechsel zwischen Selektiv- und Integralmessung häufiger vollzogen. Warum? Weil es so einfach ist und weil es plötzlich wieder Spaß macht, beim Fotografieren in den Begriffen Zeit und Blende zu denken. Der manuelle Abgleich könnte allerdings noch eine Verbesserung erfahren. Bei Blendenvorwahl wird die ermittelte Verschlußzeit wie bei der Zeitautomatik durch eine leuchtende LED signalisiert, der Fotograf muß nun das Zeiteneinstellrad solange drehen, bis die unten rechts im Sucher eingespiegelte Verschlußzeit mit der neben der leuchtenden LED übereinstimmt. Besser wäre es, wenn die korrekte Verschlußzeit konstant aufleuchtet, während die eingestellte in der Leuchtdiodenkette blinkt. Der Abgleich wäre dann vollzogen, wenn nur noch eine LED nach Verdrehen des Zeitenrades blinken würde. Umgekehrt funktioniert die Messung natürlich auch. Hier wählt der Fotograf zum Beispiel bei Sportaufnahmen als Ersatz für die Blendenautomatik die Verschlußzeit vor, die ebenfalls unten rechts im Sucher erscheint; der Blendenring muß so weit verstellt werden, bis die LED-Anzeige die gleiche Verschlußzeit signalisiert, die vorgewählt wurde.
Rund 3 300 DM kostet die R-E mit dem Standardobjektiv Summicron 2/50 mm, und sie ist damit trotz moderater Preisgestaltung im Vergleich zu R5 (Body 3500 DM) und R6 (Body 4200 DM) auf den ersten Blick für eine Kamera mit Standardobjektiv recht teuer. Doch ist das Standardobjektiv von der bildgestalterischen Seite zu Unrecht verfemt. Fast alle Motive lassen sich mit seiner Hilfe meistern. Standardobjektive, speziell das Summicron 2/50 mm, gehören von der Abbildungsqualität her zum besten, was es gibt, außerdem ist ihre Lichtstärkenreserve verglichen mit einem Zoom 35-70 mm oder 28-80 mm groß. Zwar propagiert Leica in der Werbung für die R-E das neue 28-70 mm Vario-Elmar, doch paßt das Standardobjektiv von der Philosophie her viel besser zur R-E, denn es beschränkt sich genauso wie die Kamera auf das Wesentliche und schult das fotografische Sehen. Mit ihm ist man gezwungen, den Standort zu wechseln, um ungewöhnliche Bildwirkungen zu erzielen, außerdem muß man nah an das Motiv heran, um formatfüllende Bilder zu erzielen.
Die Begegnung mit der R-E wurde zu einem Erlebnis, weniger weil sie das typische Leica-Feeling gediegener Verarbeitungsqualität und hochwertiger Materialien zum vergleichsweise günstigen Preis offeriert, sondern weil sie Technik nicht zum Selbstzweck erhebt und aufgrund ihres Werkzeug-Charakters den Fotografen in seiner Arbeit sinnvoll unterstützt. Nebenbei ist sie eine günstige Möglichkeit, die Leica-Hochpreispolitik elegant zu umgehen, schließlich kostet die R 5, die der R-E nur die Dreifach-Programmautomatik und die Blendenautomatik voraus hat, 1200 DM mehr.

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