← Zurück
Artikel
1997
Beratung
Kiev 88 TTL - preisgünstige Hasselblad-Alternative oder Anachronismus aus dem Osten?
Rauh aber herzlich
Die preiswerteste echte Mittelformat-Systemkamera mit Wechselsucher, Wechselmagazin und Wechselobjektiv kommt aus der Sowjetunion und heißt Kiev 88 TTL. Sie sieht der Hasselblad mehr als ähnlich und kostet als Komplett-Set unter 2000 DM - das verblüfft und macht mißtrauisch.
Im Mittelformat gehen die Uhren anders, und im größten Land der Erde sowieso. Während sich der Kamerafortschritt als Bühne für Innovation das Kleinbildformat ausgesucht hat, hinkt das Mittelformat mit Abstand hinterher. Autofokus ist hier ebensowenig ein Thema wie Chipkarten- oder Barcodeprogrammierung. Bei Konsumgütern spielt die Sowjetunion auch nicht gerade die Rolle des technischen Vorreiters, anders beispielsweise als in der Rüstung oder der Raumfahrt. Was kann es also Rückständigeres geben als eine Mittelformatkamera aus der UdSSR? Bisher ist es noch keinem gelungen, die Kamera neu zu erfinden. Selbst Mikroprozessoren und Still-Video-Technik konnten bislang nicht verhindern, daß ein Objektiv weiterhin die Lichtstrahlen bündelt und ein Kasten diese in irgendeiner Form festhält. Blende und Verschlußzeit regulieren den Lichteinfall je nach Helligkeit des Motivs. Von dieser Binsenweisheit profitiert die Kiev ungemein und das Resultat, die Aufnahme, verrät nicht, welchem Werkzeug es seine Entstehung verdankt. Außerdem spendet die Tatsache. daß Box-Kameras Rollfilme mit sehr viel einfacheren Mitteln belichten als eine Kiev 88 TTL, dem sich ständig in Rechtfertigungszwängen befindlichen Kiev-Besitzer Trost. Rechtfertigen muß sich der Kiev-Eigner auch vor fotografisch halbwegs versierten Leuten wegen der Ähnlichkeit seiner Kamera mit er Hasselblad. Das ehrliche Eingeständnis, mit dem Wort Kopie knapp und präzise umschrieben, fördert auch nicht gerade das Selbstbewußtsein eins Kiev-Anhängers. Seine Einstellung zur Fotografie zeichnet ihn dagegen aus. Kiev-Fotografen sind frei von Prestigedenken, das gute Bild ist ihnen wichtiger als zweifelhafter fortschritt. der sich in der Menge der Mikroprozessoren pro Kubikzentimeter umbauten Kameraraums ausdrückt. Ihnen geht es eher um Quadratmillimeter Negativfläche.
Die Wurzeln der Kiev 88 TTL reichen bis in den Anfang der fünfziger Jahre zurück, als es noch eine Hasselblad 1000 F mit Schlitzverschluß gab, die der weit später nämlich erst Ende der sechziger Jahre erschienenen Kiev als Vorbild diente. Die Nachahmung gelang so akribisch genau, daß sogar die verchromten Gehäusekanten. weithin sichtbares Merkmal der Hasselblad nachempfunden wurden. Die frappierende Ähnlichkeit macht allerdings nicht vor dem Äußeren halt. Auch die Technik der Kiev geriet zum perfekten Nachhau.
Der Schlitzverschluß gut für Zeiten von der halben bis zur tausendstel Sekunde - die letzte Zahl repräsentiert übrigens einen Wert, der in Mittelformatkreisen auch heute noch absolut salonfähig ist - besteht aus einer Metallfolie. Nach dem Verschlußspannen wird die gewünschte Belichtungszeit durch Herausziehen des Transportknopfes eingestellt. Sein Geräusch, ein helles Sirren, ist zwar leise, aber ungewöhnlich. Getreu nach dem Hasselbladprinzip läßt sich der Lichtschacht nur dann gegen das ohne Aufpreis mitgelieferte TTL-Prisma wechseln wenn da Magazin vorher abgenommen wurde.
Wenn man diese nach dem Baukastenprinzip konstruierte Kamera in ihre Einzelteile zerlegt, wenn Kameragehäuse, Lichtschachtsucher, TTL-Prisma, Wechselmagazin und Objektiv einzeln vor einem liegen, kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, viel Kamera fürs Geld erworben zu haben. Zumal das in einem Bereitschaftskoffer untergebrachte Set außer einem zweiten Magazin noch ein paar Überraschungen bereithält.
Eine Gegenlichtblende, ein Skylightfilter und sogar ein Drahtauslöser weisen darauf hin, daß man es mit einem Hersteller zu tun hat, der dir Fotografie noch ernst nimmt und einem nicht vorgaukeln will, daß man alles mit einer Kamera ohne jegliches Zubehör meistern kann. Das sorgfältige Sezieren der Einzelteile macht auch einen Grund für die Niedrigpreispolitik sichtbar. Neben geringen ukrainischen Löhnen und staatlicher Export-Subventionspolitik kommt ein Fertigungsniveau hinzu das -gemessen an west- und nordeuropäischen Standards - bisweilen etwas improvisiert wirkt. Gravuren sind recht unsauber aufgetragen, das Bajonett arbeitet ohne eindeutige Verriegelung, der Deckel für das Fenster der Filmladekontrolle in der Magazinrückwand läßt sich nur mit Nachdruck fixieren. Schönheitsfehler zwar, welche die Funktion nicht beeinträchtigen, dafür aber das Vertrauen in die dauerhafte Zuverlässigkeit der Kamera ein wenig beeinträchtigen. Trotzdem wirkt die Kiev durch ihre Handlichkeit sympathisch, das grundsätzliche Hasselblad-Feeling verdrängt beim In-die-Hand-nehmen jegliche, beim Zerlegen gewonnenen Vorbehalte. Auch das komplizierte und etwas langwierige Öffnen und Schließen des Faltlichtschachts stört die Handhabung nicht weiter - schließlich war das bei den Göteborger Kameras bis 1986 noch genauso.
Drei Objektive sind hierzulande für die Kamera erhältlich. Neben dem Standardobjektiv Volna 3 2,8/80 mm - Volna heißt Wille - ist ein Weitwinkel Mir (Frieden) 3,5/65 mm und ein außerordentlich lichtstarkes Tele 2,8/150 mm mit dem Namen Kalejnar - für dessen Übersetzung die Russischkenntnisse des Autors allerdings nicht ausreichen. Daß die größte relative Öffnung der Zusatzobjektive so reichlich ausfiel ist in erster Linie ein Verdienst des fehlenden Zentralverschlusses, aber auch ein Beweis für die Kompetenz der russischen optischen Industrie die sich in der sehr guten Bildqualität niederschlägt. Auch bei voll geöffneter Blende was beim Tele wegen der erwünschten geringen Schärfentiefe bei Porträts häufig vorkommt, vermochte das Objektiv zu überzeugen. Lediglich Gegenlichtsituationen beantwortete es mit mehr oder minder starker Reflexneigung, die Qualität der Vergütung westlichen Standards wird noch nicht erreicht. Gewisse Verarbeitungsmängel kann man auch bei den Objektiven konstatieren. Während sich das Standardobjektiv Volna 3 makellos bis ins Detail präsentiert fiel beim Kalejnar ein ungleichmäßig aufgetragener Antireflexbelag im Innern des Tubus ins Auge. Winzige Luftbläschen, die allerdings auf die Bildqualität keinen Einfluß haben, gab es beim Mir zu beanstanden.
Mit der Meßgenauigkeit des TTL-Prismas, das den Belichtungsabgleich über drei Leuchtdioden signalisiert, gab es keine Probleme allerdings bricht das Prisma das Licht in einem gelblichen Ton, was zumindest der Gewöhnung bedarf.
Trotz gewisser Unzulänglichkeiten besitzt die Kiev 88 TTL durchaus eine gewisse Ausstrahlung, der man sich zumal wenn man einen Sinn für Fotoapparate klassischer Prägung hat, nicht entziehen kann. Exotisches wie die kyrillische Schrift auf der bunt-naiven Papp-Verpackung, die Assoziationen an Spielzeug weck,. paart sich zum einen mit handwerklich solider Machart. Materialien wie Glas, Metall und Leder herrschen gegenüber dem nur ansatzweise vorhandenen Kunststoff bei weitem vor und zum anderen dem unverwechselbaren Hasselblad-Flair, von dem die Kamera zweifellos lebt.
Kopie hin. Kopie her - wäre die Kiev 88 TTL nur irgendeine russische Mittelformatkamera, wie etwa die Kiev 60 TTL, hätte sie nicht schon von vornherein den Nimbus, der sie bei dem Preis fast unwiderstehlich macht.
{ewl Thnhlp32.dll,THIN,SKIN.LZH;STEIMERM.BMP}