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Artikel

1997

Test & Technik

Die Entwicklungsgeschichte der Hasselblad 205 TCC

Zeitsprung

Die neue Hasselblad 205 TCC katapultierte das Göteborger Kameraunternehmen mit einem Schlag ins Elektronikzeitalter. Mikroprozessoren statt Zahnradgetriebe bestimmen den Funktionsablauf der neuen Kamera. Um Bewährtes mit Neuem zu verknüpfen, waren acht Jahre Entwicklungszeit notwendig. Wir schlagen ein bislang unbekanntes Kapitel der 205-TCC-Geschichte auf.

Nur drei Jahre brauchen die Japaner, um eine Kleinbild-Spiegelreflexkamera der Spitzenklasse auf die Beine zu stellen, wie das Beispiel der Nikon F4 beweist. Designer Giorgio Giugiaro bekam sein erstes Briefing von den Nikon-Chefkonstrukteuren im Herbst 1985, drei Jahre später - zur photokina 1988 - war es dann soweit: die Nikon F4 wurde der staunenden Öffentlichkeit präsentiert.
Hasselblad dagegen brauchte acht Jahre, um die neue 205 TCC zu entwickeln. Nicht etwa, weil die Konstrukteure der schwedischen Renommiermarke weniger talentiert wären, sondern weil es viel einfacher ist, bei der Entwicklung ganz von vorn zu beginnen, statt Bestehendes entscheidend umzuwandeln. So mußten die Freunde des Hauses Hasselblad lange Dürrejahre über sich ergehen lassen, denn wirkliche Kamera-Innovationen aus Göteborg ließen in den achtziger Jahren vergeblich auf sich warten. Zwar wurde am bestehenden Modellprogramm im Zuge der Modellpflege sorgfältig gefeilt - TTL-Blitzsteuerung hier, eine hellere Einstellscheibe da -, aber wo war der wirkliche Durchbruch seit der Schlitzverschlußkamera 2000 FC von 1977? Erst 1991 begann mit der 205 TCC ein wirklich neues Kapitel in der 50jährigen Geschichte der Hasselblad-Kameras. Möglicherweise haben die Schweden das Debüt der 205 TCC sogar bewußt noch ein wenig hinausgezögert, bis zwei geschichtsträchtige Daten zusammenfielen: 50 Jahre Hasselblad-Kamerageschichte und der neue Meilenstein namens 205 TCC.
Der Startschuß für die 205 TCC in Form einer ersten Idee für ein zukunftsweisendes neues Kameramodell fiel am 15. April 1983, doch streng genommen begann die Entwicklungsgeschichte der 205 TCC schon im Jahre 1957, als Firmengründer Victor Hasselblad die 500 C vorstellte. Nach den Vorgängermodellen 1600 F und 1000 F, die beide einen Schlitzverschluß besaßen, läutete die neue 500 C mit ihrem Zentralverschluß und den Carl-Zeiss-Objektiven das neue Zeitalter bei Hasselblad ein, das fortan von einem bestimmten, im Laufe von Jahrzehnten nur wenig modifizierten Gehäusetyp mit gleichbleibendem Bajonett geprägt wurde. Auch die 2000 FC von 1977 paßte sich den traditionellen Gegebenheiten des Hauses an. Die 205 TCC mußte sich ebenfalls der Erblast beugen und sich laut Lastenheft der Ingenieure der Systemkompatibilität und dem zeitlosen Design anpassen, das für die Marke so typisch ist. Sicher wäre es für die Hasselblad-Ingenieure einfacher gewesen, von Grund auf neu zu beginnen, ohne Vorgaben - abgesehen natürlich vom Format und vom Spiegelreflexprinzip. Ein solches Vorgehen hätte die Entwicklungszeit vermutlich wesentlich verkürzt, doch ernsthaft dachte unter den Verantwortlichen in Göteborg niemand daran. Zu sehr sind Systemkompatibilität und das typische, handliche Hasselblad-Kameragehäuse in der Firmenphilosophie verwurzelt. Beides zu opfern, hätte einen Affront bedeutet.

Langer Reifeprozeß

Die Idee von der neuen Hasselblad reifte langsam, aber beständig. Schon frühzeitig war klar, daß es im Hinblick auf die Konkurrenz und insbesondere mit Rücksicht auf die Wünsche vieler Hasselblad-Fotografen eine Kamera mit einer in das Gehäuse integrierten Belichtungsmessung sein mußte. Von großer Bedeutung was außerdem die Anforderung des Lastenhefts, daß alle ab 1957 gebauten Objektive an die neue Kamera passen mußten, die übrigens intern den Codenamen "Inka" trug. "Inka" wie "intelligente Kamera," was auf schwedisch, fast gleichlautend, "intelligent kamera" heißt.
Am ersten September 1986 war es soweit: Nach langen, sorgfältig gegeneinander abgewogenen Überlegungen und Hunderten von praktischen Versuchen wurden alle erforderlichen Ausstattungsmerkmale für die neue Kamera verabschiedet, einschließlich des Zonensystems. Die Ingenieure Ove Bengtsson und Stig Fröberg machten im Herbst 1985 den Vorschlag, die Zonenmeßfunktion in das Kameragehäuse der neuen Hasselblad zu integrieren. Ove Bengtsson erinnert sich: "Es kostete Mühe, alle von den Vorzügen der Zonenmeßfunktion zu überzeugen. Nicht wenige waren der Ansicht, dies sei zu kompliziert für gewöhnliche Fotografen." Die im Herbst 1986 beschlossenen Kameradetails erfuhren nur noch geringfügige Änderungen. Die ersten funktionierenden Prototypen existierten bereits Ende 1987. Der Name Inka wurde zum Programm. Die künstliche Intelligenz spielte während der Kameraentwicklung und als Bestandteil der Kamera selbst eine große Rolle. Die Inka sollte die erste mikroprozessorgesteuerte Hasselblad werden mit kameraeigener Software, mit besonders präziser integrierter Spotbelichtungsmessung und mit einer neuartigen Databus-Kommunikation zwischen den einzelnen Bauteilen.
Databus funktioniert so: Der Kamera-Mikroprozessor, auch CPU wie englisch "Central Mikroprocessing Unit" genannt, erhält seine Daten erstens vom Objektiv, beispielsweise durch die eingestellte Blende; zweitens vom Magazin durch die Eingabe von Filmempfindlichkeit und den Kompensationswerten für die kontrastangepaßte Schwarzweißentwicklung; drittens durch die Benutzer-Eingabedaten des Fotografen am Programmwähler der Kamera. Diese Einzelinformationen werden nach dem Databus-Prinzip zur sogenannten Gesamtdatenausgabe verarbeitet, die im Sucherdisplay angezeigt wird. So hat der Fotograf eine vollständige Kontrolle über alle Kamera- und Objektiveinstellungen. Bei den Databus-Verbindungen der einzelnen Kamerabauteile werden zur Übertragung nur zwei vergoldete elektronische Kontakte für den Datenfluß und zwei weitere für die Stromversorgung benötigt.

Hilfe vom Computer

Die digitale Datenverarbeitung als völlig neuartiges Konstruktionsziel bei der Hasselblad verlangte auch nach einer anderen Konstruktionsweise. Mit Computer Aided Design (CAD), was auf deutsch soviel heißt wie Konstruieren per Computer, begann bei Hasselblad eine neue Ära bei der Entwicklung von Kameras. Die 205 TCC zeichnet sich durch den modularen Aufbau verschiedener Leiterplatten aus, deren mikroelektronische Bauteile die verschiedenen Kamerafunktionen ermöglichen. Diese Leiterplatten wurden von den Entwicklungsingenieuren per CAD aufgebaut. Aber nicht nur die Elektronik laßt sich per Computer funktionsgetreu darstellen, auch die mechanischen und optischen Komponenten wurden per Bildschirm aufgebaut und erhielten durch die Eingabe von Parametern wie Material, Größe, Stärke und formelle Beschaffenheit des Bauteils ihre genau definierte optimale Struktur für das, was sie in der Kamera leisten müssen. Lars Pappila, Entwicklungschef bei Hasselblad, wehrt Spekulationen ab, wonach der mechanische Aufbau der 205 TCC weitgehend dem der 2003 FCW entspricht. "Von 400 mechanischen Elementen", so Pappila, "sind 365 neu konstruiert".
Anders als bei der 2003 FCW besteht der Verschluß der 205 TCC nicht aus Titanfolie, sondern aus einem speziellen Textilmaterial, wie es in seiner Zusammensetzung erstmals für die 205 TCC verwendet wurde. Der Verschluß wurde im Laufe der Entwicklung geändert. Beim ersten voll funktionsfähigen B-Prototyp von 1988 - der A-Prototyp von 1985 beinhaltete zwar auch schon alle späteren Funktionen, allerdings war die Elektronik noch nicht in das Gehäuse integriert und mußte extern bedient werden - bestand er noch aus Titanfolie, dem nach einschlägiger Auffassung hochwertigsten Verschlußmaterial. Dennoch erwies sich bei den Dauerversuchen das Textilmaterial hinsichtlich der konstanten Einhaltung der Verschlußzeiten als überlegen. So kam er erstmals im C-Prototyp, der im Herbst 1989 fertiggestellt wurde, zum Einsatz und ging mit der 205 TCC unverändert in Serie.

Bewährungsprobe im Dauertest

Mit der Entwicklung und Produktionsvorbereitung der 205 TCC waren insgesamt 100 Hasselblad-Mitarbeiter beschäftigt. Natürlich muß eine so hochwertige und teure Kamera wie die Hasselblad 205 TCC voll ausgereift auf den Markt kommen. Den guten Markenruf beeinträchtigende Kinderkrankheiten, wie sie bei der 2000 FC von 1977 auftraten, konnte Hasselblad sich nicht wieder leisten. So galt es für die Inka schon vom Stadium des B-Prototypen an, intensive Dauertests zu bestehen. Diese Tests fanden zum einen in der Hand ausgewählter Fotografen statt, die sich als vertrauenswürdig erwiesen hatten, denn jede Vorab-Veröffentlichung über das geheime Projekt Inka sollte verhindert werden. Zum anderen mußte die Kamera im Labor und auf dem Prüfstand im Dauerversuch überzeugen.
Schon früh war man sich bei Hasselblad darüber klar, daß es sich bei der Inka um eine besonders erklärungsbedürftige Kamera handeln würde. Sie ist kein High-Tech-Produkt von der Art vieler Autofokus-Kleinbild-Spiegelreflexkameras, sondern im Grunde genommen ein genial einfaches technisches Spitzenprodukt, das sich auf die beiden elementaren Anforderungen der Fotografie beschränkt: optimale Schärfe und optimale Belichtung.
Während die optimale Schärfe dank des großzügigen Bildformats, exzellenter Objektivqualität und präziser Filmplanlage bereits bei den früheren Hasselblad-Modellen gewährleistet war, überließ man die optimale Belichtung dem Know-how des Fotografen und einem vergleichsweise einfachen TTL-Prisma. Das sollte bei der Inka anders werden. Eine Spotmessung mit einem Meßwinkel von 4 Grad und einer hohen Empfindlichkeit von EV -1 bis EV 20 bei ISO 100/21xGRADx und Blende 2,8 war zunächst einmal eine gute Grundvoraussetzung. Programmier-, Differenz- und Zonenmeßfunktion nutzen für die unterschiedlichen Anwendungen und Motivsituationen diesen Grundbaustein Spotmessung, dessen Realisierung übrigens unter Mithilfe des japanischen Elektronikunternehmens Oki entstand. Diese neuartigen Funktionen erschließen sich auch dem versierten Fotografen nicht gleich auf Anhieb, so daß ein Handbuch und sogar ein Video als Bedienungshilfen jeder 205 TCC beiliegen. Mehr als jede andere Mittelformatkamera verlangt die 205 TCC die Bereitschaft des Fotografen zur intensiven Auseinandersetzung mit ihr.
Nicht weniger als acht Jahre dauerte also die Entwicklung der Hasselblad 205 TCC. Daß sich Zeit und Aufwand gelohnt haben, beweist diese einzigartige Kamera sehr eindrucksvoll. Sie beweist auch noch etwas anderes, nämlich daß europäisches Know-how und ein intelligentes Konzept im Kamerabau auch heute noch in der Lage sind, den marktbeherrschenden Japanern Paroli zu bieten.
Leider hat dieser Vorsprung durch Technik bei Hasselblad seinen Preis. Es mag hier ein Trost sein, wenn in Japan der Prophet im eigenen Land nichts gilt: Noch nie war Nippons Verlangen nach Hasselblad-, Leica-, Rollei- und Minox-Kameras so groß wie 1991.

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