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Artikel

1997

Beratung

Die Evergreens

Alles über zweiäugige Spiegelreflexkameras

Gerade Mittelformat-Einsteiger kommen an den zweiäugigen Kamera nicht vorbei. Dieses antiquiert anmutende Baumuster kann mit ein paar handfesten Vorteilen aufwarten: Robustheit, Langlebigkeit, Preiswürdigkeit und die Erziehung zu einer anderen, bewußteren Art der Fotografie sind immer noch überzeugende Argumente für diese ungewöhnlichen Kameras, die eine detaillierte Betrachtung verdienen.

Die große Zeit der Zweiäugigen ist längst vorbei. In den fünfziger und sechziger Jahren dominierten sie noch in der Presse-, Porträt- und Modefotografie, heute ist das Angebot dieser bemerkenswerten Kameras auf ein Minimum geschrumpft. Schon ihr Erscheinungsbild weckt nostalgische Gefühle - eine Mischung aus technischer Kuriosiät und seltsamer Vertrautheit. Fast wie die Leica ist die Zweiäugige, insbesondere wenn Rolleiflex draufsteht, für viele der Fotoapparat an sich, der in keinem Fotohandbuch fehlt und der im Lexikon unter "Ph" wie Photografie selbstverständlich auftaucht.
Im Jahre 1992 existieren lediglich noch vier Modelle dieses einst massenhaft unter den Namen Olympus, Minolta, Ricoh, Yashica, Voigtländer, Rollei, Zeiss-Ikon und vielen anderen mehr verbreiteten Kameratyps. Ebenso wie in der knappen Auswahl zeigen sich die Extreme in der Preisgestaltung. Die Fortsetzung der unendlichen Geschichte der zweiäugigen Kamera, die 1929 bei Franke & Heidecke in Braunschweig begann, heißt Rolleiflex 2,8 GX. Das Original, das zum Vorbild für viele Kamerakopien wurde, kostet rund 3300 Mark. Die Seagull, eine bislang millionenfach produzierte, sehr preiswerte Rollei-Replik, ist in zwei Varianten zu haben, von denen die teurere 200 Mark kostet - viel weniger als ein Zehntel also.
Fast genau zwischen edel und einfach hat sich die Mamiya C 330 S angesiedelt. Sie koste etwa 1700 Mark inklusive Standardobjektiv 2,8/80 mm, blickt auf eine recht lange Tradition ab 1957 und auf zwei Vorgänge - C 3 und C 33 zurück. Die Mamiya genießt eine Sonder Stellung innerhalb dieses Quartetts, denn ihre Objektive lassen sich wechseln. Diese Möglichkeit beseitigte einen typischer Mangel, den die Zweiäugige jahrzehntelang mit sich herum trug und der ihr schließlich zum Verhängnis wurde.

Zwei Kameras in einer

Zunächst sollen allerdings die Meriten der Zweiäugigen zur Sprache kommen. Ihr größte Vorteil liegt im prinzipiell recht einfachen Aufbau. Obwohl sich zur Gattung der Spiegelreflexkameras gehört, gibt es bei den Aufnahme keinen Spiegelschlag der Geräusche und Vibrationen verursacht und das Sucherbild für den kurzen Moment der Belichtung verdunkelt. Des Rätsels Lösung ist ein starr im Kameragehäuse angebrachter Spiegel, der den Lichtstrahlen nicht im Weg ist, weil er einfach eine Etage höher liegt. Die zweiäugige Spiegelreflex besteht nämlich im Grunde genommen aus zwei übereinander angeordneten Kameras: einer Sucherkamera und einer Aufnahmekamera, deutlich erkennbar an den zwei übereinanderliegenden Objektiven, die ihr den Namen gaben. Der Fotograf visiert sein Motiv über das Sucherobjektiv an, das die gleiche Brennweite und meist auch die gleiche Lichtstärke hat wie das Aufnahmeobjektiv. Auch die Schärfe kann er genau über eine Mattscheibe mit Hilfe des Sucherobjektivs einstellen. Die Objektivstandarte, die Sucher- und Aufnahmeobjektiv trägt, ist nämlich über einen Zahnradantrieb beweglich. Was durch das Aufnahmeobjektiv scharf erscheint, wird auch auf dem Film scharf festgehalten. Leider läßt sich nur das Aufnahmeobjektiv abblenden, eine Schärfentiefenkontrolle im Sucher ist daher nicht möglich. Dies ist ein bildgestalterisches Manko, das auch durch eine Schärfentiefenskala um den Fokussierknopf nicht wettgemacht wird. Ein aufwendiger Spiegelmechanismus entfällt also. In Zusammenwirken mit dem sehr leisen Zentralverschluß resultiert daraus ein Auslösen im Flüsterton.

Parallaxen-Probleme

Weil Aufnahme- und Sucherobjektiv übereinander angeordnet sind, wird von beiden ein geringfügig unterschiedliches Bild entworfen. Beide Objektive haben verschiedene optische Achsen. Diese auf den ersten Blick vernachlässigbar geringe Differenz wirkt sich bei weit entfernten Motiven überhaupt nicht aus. Erst ab etwa drei Meter Entfernung erkennt man nennenswerte Unterschiede in den Ausschnitten von Sucherbild und Negativ. Diese Differenz heißt Parallaxe. Sie wird mit schwindendem Aufnahmeabstand immer größer. Die preiswerten Seagull-Modelle lassen den Fotografen mit diesem Problem allein. Die Rollei-Konstrukteure lösten es jedoch auf recht elegante Weise: Zwei bewegliche Keile am oberen und unteren Mattscheibenrand zeigen immer den exakten Bildausschnitt. Bei der Mamiya ist diese Lösung wegen der Wechselobjektiv-Charakteristik nicht möglich. Hier signalisiert ein deutlich wahrnehmbarer Zeiger die Parallaxe beim jeweils verwendeten Objektivsatz.
Zwar trennen die Seagull A103 und die Rolleiflex 2,8 GX in Qualität, Verarbeitung und technischem Feinschliff Welten, aber das gleiche Konzept ist in der chinesischen Kamera erkennbar. Anders die Mamiya C 330 S. Sie gehört zwar unübersehbar zum Stamm der Zweiäugigen, verfügt aber über zwei Merkmale, die ihr eine Sonderstellung einräumen: Die Wechselobjektive machen sie bestens an die jeweilige Aufnahmesituation anpassungsfähig, und der Balgen ermöglicht in Verbindung mit dem Standardobjektiv Nahaufnahmen bis zu 35 Zentimetern Aufnahmeabstand. Damit schlägt die C 330 S sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe, denn Wechselobjektive und Nahbereichstauglichkeit gehörten zu den Problempunkten der Zweiäugigen-Konzeption.
Diese erstaunliche Flexibilität läßt die Mamiya C 330 S zur preiswerten Konkurrentin für die einäugigen Spiegelreflexkameras werden, denn hinter der Kamera steht ein ganzes System von Objektivsätzen, Suchern, Handgriffen und Einstellscheiben, wie es selbst Rollei in den besten Zeiten der 2,8 F nicht zu bieten hatte. Leider wurde es inzwischen stark ausgedünnt, denn die C 330 S hat längst nicht mehr die Bedeutung im Mamiya-Programm wie noch vor zehn Jahren. So gibt es keine Sucheralternativen mehr zum Faltlichtschacht. Prismensucher, CdS-Porroflex-Sucher sowie die CdS-Lupeneinstellhaube fielen der Programmstraffung zum Opfer. Auch die Wechselobjektive wurden zusammengestrichen. Einst bestand die Palette aus immerhin sieben Objektiven, die das Brennweitenspektrum von 55 bis 250 Millimeter abdeckten. Im einzelnen waren dies die Mamiya-Sekore 4,5/55 mm, 3,5/65 mm, 2,8/80 mm, 3,5/105 mm DS mit Irisblende für das Sucherobjektiv, 4,5/135 mm, 4,5/80 mm und 6,3/250 mm. Von diesem Repertoire blieben nur noch vier Objektive übrig: Sekor 4,5/55 mm, 2,8/80 mm S, 4,5/135 mm und 4,5/180 mm Super.
Der eingebaute Balgen erweitert zwar die Einsatzmöglichkeiten der Mamiya C 330 S erheblich, er macht die Kamera aber auch etwas unhandlich. Die "Leichtfüßigkeit", mit der eine Rolleiflex 2,8 GX in der alltäglichen Fotografie aufwartet, kann die größere und schwerere Mamiya nicht bieten.
Verzichtet man allerdings auf extreme Nahaufnahmen, so ist das Stativ durchaus entbehrlich. Gerade mit dem Standardobjektiv Sekor 2,8/80 mm S ist die Mamiya eine überraschend gute Allround-Kamera, die sich gleichermaßen durch gute Bildqualität und schnelle, unproblematische Bedienung auszeichnet. Vorausgesetzt, der Fotograf hat einen Sixtomat von Gossen oder einen Sekonic-Belichtungsmesser zur Hand, der es ihm erlaubt, die Belichtung sicher und schnell zu messen.

Alternative aus dem Mamiya-Programm

Die Abbildungseigenschaften dieses Vierlinsers sind erstaunlich gut. Bei Aufnahmen mit dem Sekor konnten wir nur einen geringen, wenn auch im Dia sichtbaren Unterschied zum fünflinsigen Planar 2,8/80 mm der Rolleiflex 2,8 GX feststellen. Die Planar-Aufnahmen wirkten stets eine spur brillanter. Als ein Juwel für Porträtaufnahmen offenbarte sich einmal mehr das Sekor 4,5/180 mm, das zu Recht den Beinamen "Super" in der Objektivbezeichnung trägt. Die ideale Brennweite für den Aufnahmezweck ist hier mit brillanter Schärfeleistung verbunden.
Die beiden chinesischen Kameras Seagull 4B1 und A103 wollen nicht ganz so ernstgenommen werden. Das verhindern schon der geringe Preis und die - gemessen an der deutschen und japanischen Konkurrenz - eindeutig schlechtere Verarbeitungsqualität.
Die Seagull 4B1 entspricht der einstigen Rolleicord; sie verzichtet auf die Schnellschaltkurbel, die Verschlußaufzug und Filmtransport verbindet. Vor jeder Aufnahme muß der Verschluß mit einem Hebel unter dem Aufnahmeobjektiv gespannt werden. Bei der A103 geschieht das nach Rolleiflex-Manier mit dem typischen Doppelschwung: Kurbel einmal vor und einmal zurück, und die Kamera ist aufnahmebereit.
Für einen Bruchteil des Preises üblicher Mittelformatkameras vermitteln die Seagull-Modelle dem Kleinbildfotografen bereits das typische Mittelformat-Flair - technische Konzentration auf das Wesentliche ohne komplizierte Elektronik, Batterieunabhängigkeit, bewußtere Bildgestaltung dank der Komposition des Motivs im Faltlichtschacht. Der Fotograf sieht bereits im Sucher das fertige Bild in der Aufsicht. Außerdem erziehen nur zwölf Aufnahmen zum bewußteren Fotografieren. Die Bildqualität der Dreilinser in den Seagull-Kameras kann sich sehen lassen. Blendet man nicht ganz auf, so sind mit dem großen Format (in der Fläche 3,7mal so groß wie Kleinbild) erstaunlich scharfe und kontrastreiche Bilder möglich.

2,8 GX - die Kamera für Perfektionisten

Steigt man nun von der Kopie auf das Original um, das heißt tauscht man eine Seagull gegen eine Rolleiflex 2,8 GX, dann glaubt man, Jahrzehnte in der Kameratechnik mit einem Satz zu überspringen. Der Lichtschachtsucher ist die helle Freude - wenn man ihn aufklappt, strahlt einem ein brillantes Sucherbild entgegen. Die Verarbeitungsqualität der 2,8 GX ist über jeden Zweifel erhaben. Jeder Winkel des Gehäuses, jeder Hebel und jedes Rädchen künden von einer großen Liebe zum Detail. Filmtransport, Verschlußaufzug und Fokussierung funktionieren äußerst leise und geschmeidig, der Verschluß läuft fast unhörbar ab. Alles in allem also eine sehr präzise Kamera, der man die über sechzig Entwicklungsjahre ansieht. Zweifellos ist die Rolleiflex 2,8 GX die Kamera für Perfektionisten. Von ihrer Präzision ist auch die Mamiya C 330 S noch ein gutes Stück entfernt.
Bei der 2,8 GX gibt es keine blechernen Hebel oder improvisiert wirkenden Mechanismen, da ist alles durchkonstruiert bis auf die letzte Schraube. Dies hat freilich seinen Preis - die Kamera kostet immerhin 3300 Mark.
Genau wie diese besitzt die 2,8 GX eine TTL-Belichtungsmessung. Der Abgleich läßt sich über fünf im Sucher sichtbare Leuchtdioden präzise vornehmen, jede Abweichung vom Idealwert wird in halben Blendenstufen angezeigt. Die Meßcharakteristik ist sehr praxisnah. Die Rollei-Konstrukteure entschieden sich für eine fast selektiv wirkende Mittenbetonung. Eine Silizium-Zelle mißt das Dauerlicht, eine zweite ist für die TTL-Blitzsteuerung zuständig, die gut mit dem über alle Zeiten synchronisierten Zentralverschluß harmoniert. Der eingebaute Belichtungsmesser bringt es mit sich, daß die ansonsten vollmechanische Kamera auf eine Batterie angewiesen ist. Die sechs Volt der Energiequelle erscheinen jedoch mehr als reichlich dimensioniert. Der gebotene Bedienungskomfort besticht. Mit den beiden Rädchen links und rechts vom Sucherobjektiv läßt sich diese Kamera erstaunlich schnell und sicher bedienen; Mamiya wie auch Seagull erfordern da schon mehr Fingerspitzengefühl. Die Abbildungsqualität des Planar 2,8/80 mm vermochte voll zu überzeugen. Es wird zusätzlich von der exakten Scharfeinstellung und der erschütterungsfreien Auslösung unterstützt. Doch keine Rose ohne Dornen: Das 80-mm-Planar läßt sich leider nicht gegen eine andere Brennweite austauschen, der Fotograf ist also ständig auf den gleichen horizontalen Bildwinkel von 46 Grad angewiesen. Fluch oder Chance? Eher eine Chance, denn die hervorragende Bildqualität läßt im Falle eines Falles problemlos Ausschnittsvergrößerungen zu, und die Beschränkung auf nur ein Objektiv schult das fotografische Sehen.
Die zweiäugigen Mittelformatkameras haben also trotz des immer kleiner werdenden Angebots längst noch nicht ausgedient. Dem ernsthaften Kleinbildaufsteiger stellen sich zwei Alternativen: die Mamiya C 330 S, preiswert und vielseitig, und die Rolleiflex 2,8 GX, ein Denkmal technischer Präzision und ein Paradebeispiel für exzellente Bildqualität.

Für und Wider

+ robuste, ausgereifte und leise Kamerakonstruktion 
+ sehr gute Bildqualität dank großen Bildformats und leicht beherrschbarer Objektive: wegen fehlenden Spiegelkastens keine Retrofokuskonstruktion notwendig 
+ handlich und leicht zu bedienen 
+ großes Angebot an gut erhaltenen Gebrauchtkameras (speziell Rolleiflex, aber auch Mamiya) 
+ Wechselobjektivsätze hoher Qualität (nur Mamiya)
- Parallaxenproblem muß beseitigt werden
- Naheinstellgrenze liegt hoch 
- wenige neue Modelle

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