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1998

Photographica Aktuell

Neues von Gestern

Mittelformatkameras aus der Sowjetunion

Kameratechnik von gestern gibt es in letzter Zeit häufig neu zu kaufen. Gemeint sind Fotoapparate aus der Sowjetunion, die verstärkt nach Deutschland kommen und die Herzen von Mittelforrnat-Liebhabern erobern, die sich keine Hasselblad oder Rollei leisten können. Gerade auf Fotobörsen stößt man häufig auf die COLOR FOTO-Lesern bereits bestens bekannte Kiev 88, aber auch auf die Kiev 60, bislang hierzulande ein eher unbeschriebenes Blatt.

Die beiden Berichte über die Kiev 88 TTL in COLOR FOTO (Heft 4/90 und 2/91) hatten eine Flut von Leserpost als Resonanz zur Folge. Zahlreiche Anfragen bezüglich des Deutschlandvertriebs und des lieferbaren Zubehörs mußten beantwortet werden. Woran liegt dieses große Interesse an einer exotischen Kamera von gestern, an einer noch nicht einmal brillanten Nachahmung einer Hasselblad 1000F von 1952? Vielleicht liegt es gerade an der antiquierten Technik, welche die Fotografie noch als Handwerk und nicht als Eingabe von Daten erleben läßt.
Sicher spielt bei der Kiev 88 TTL die Ähnlichkeit zur Hasselblad in der Optik eine erhebliche Rolle für die Attraktivität der russischen Kamera. Von weitem sind Plagiat und Original nicht voneinander zu unterscheiden. Aus der Nähe erkennt man die Kiev deutlich an ihrer sorgloseren Machart, ob Belederung oder Gravuren - alles wirkt bei weitem nicht so perfekt wie bei der Hasselblad. Dafür stimmt der Preis: Nur rund 800 Mark kostet die Kiev 88 TTL; eine Hasselblad 500 C/M kommt mit 6000 Mark erheblich teurer zu stehen. Dafür gibt es die Kiev gleich im Set: ein TTL-Prisma, zwei Magazine, zwei Filter, eine Sonnenblende und sogar ein Drahtauslöser gehören inklusive eines kleinen schwarzen Koffers zur aufpreisfreien Standardausrüstung. Die Raumausnutzung des Koffers ist so ausgeklügelt, daß sie zuerst anhand einer mitgelieferten Skizze studiert werden
muß, soll die kleine Ausrüstung nach der Entnahme wieder vollständig Platz finden. Verspielte Naturen können sich stundenlang mit den Einzelteilen beschäftigen, bis es ans Fotografieren geht. Da allerdings kommen schon erste Probleme auf den Kiev-Fotografen zu.
Je nachdem, wo und in welchem Zustand die Kamera erworben wurde, können bereits nach wenigen Auslösungen Probleme auftreten. Die Fertigungstoleranzen in Kiev haben sich nämlich noch lange nicht auf marktwirtschaftliches Niveau eingespielt, sie repräsentieren eher sozialistische Nonchalance. So kommt es vor, daß bei wenig gefühlvollem Betätigen des Zeiteneinstellrads ein wichtiger Bestandteil desselben den Geist aufgibt und der Knopf danach seine Funktion einstellt. Anpassungschwierigkeiten mit fremden Magazinen, die nicht aus dem mitgelieferten Set stammen, sind mangels richtigem Zusammenspiel von Kamera- und Magazin-Zahnrädern ebenso an der Tagesordnung wie Lichteinfall auf den Film durch fehlerhafte Magazin-Abdichtung. Bei unseren bei den Testkameras traten diese Fehler nicht auf, was zu einer insgesamt guten Beurteilung führte. Störend war einzig das wenig solide ausgeführte Kamerabajonett, das, bestückt mit dem größeren Kalejnar 2,8/150 mm, beim Fokussieren wackelte.
Wer Glück hat, erwischt ein Exportexemplar, das qualitativ zufriedenstellend ist. Die Kiev-Mängel lassen sich mit relativ wenig Aufwand abstellen, nur die Gewähr, daß sie nie mehr auftreten, hat man nicht. Kameras von seriösen Anbietern - für die Kiev-Fans in der Bundesrepublik ist der rührige Kamerafachmann Heinz Preller aus Barsinghausen bei Hannover kompetenter Ansprechpartner und Lieferant - werden vorher sorgfältig geprüft. Heinz Preller beklagt bei seinem Sorgenkind Kiev 88 trotzdem recht hohe Mängelquoten. Die formschöne Hasselblad-Kopie gibt sich recht kapriziös.
Im Gegensatz zur Kiev 88 TTL erweist sich die Kiev 60 TTL als grundsolide. Dieser auf den ersten Blick stilistisch sehr grobschlächtige Apparat, der entfernt an die weit filigranere Pentacon Six erinnert, verwöhnt seinen Besitzer laut Auskunft von Kiev-Spezialist Heinz Preller geradezu in Sachen Zuverlässigkeit und Robustheit. Bei der Konzeption der Kiev 60 muß die Pentacon Six genauso Pate gestanden haben wie die Hasselblad bei der Kiev 88, doch sieht die Kiev der Pentacon Six im Detail nicht so ähnlich. Auch in den Funktionen gibt es Unterschiede. So verzichtet die Kiev 60 auf einen Selbstauslöser und eignet sich nur für den 120er Rollfilm.
Seit es die Pentacon Six neu nicht mehr gibt, ist die Kiev 60 die billigste Mittelformatkamera auf dem Markt. Die Gemeinsamkeiten mit der Six sind unverkennbar, beabsichtigt und nicht zufällig: das gleiche Kamerabajonett, die gleiche Schräglage des Auslösers und ein Schlitzverschluß, wie er genauso auch aus dem Dresdner Werk stammen könnte. Die Kiev 60 beweist, daß nicht jede Nachahmung schlechter sein muß als das Original. Sie weist eine wesentlich bessere Filmführung auf als das Original, das häufig an Überlappungen, schlechter Filmplanlage und unterschiedlichen Bildabständen litt - Kinderkrankheiten, die sie leider Zeit ihres Lebens nie so richtig überwand und die sich nur durch gezielte Eingriffe eines Feinmechanikers kurieren lassen.
Die russischen Kamerakonstrukteure haben das Problem des Filmtransports klar erkannt. Sie verwenden eine vierfache Filmführung, wie es auch die Pentacon-Six-Sanierer bei Beroflex mit der Exakta 66 schon getan haben, und verbesserten durch eine modifizierte Andruckplatte auch die Planlage. Die größere, hellere Mattscheibe mit einem Meßkeil zur leichteren Scharfeinstellung ist ein weiteres Plus der russischen Nachahmung. Der Lichtschacht der Kiev 60 besticht durch den kontrastreichen, nebenlichtfreien Einblick, ein weiterer Vorzug gegenüber der Kamera aus Dresden. Trotzdem kann es passieren, daß auch eine Kiev 60 bei den dünnschichtigen westlichen Filmen an Verdauungs-Problemen leidet. Geringfügig unterschiedliche Bildabstände spielen dabei keine Rolle; außerdem kann der Fotograf anhand eines von Kiev-Spezialist Heinz Preller ausgetüftelter "Trick-17-Systems" mit Hilfe der Filmspule für einen einwandfreien Filmtransport der Kamera sorgen.
Die Vorzüge der Pentacon Six im Vergleich mit der Kiev sollen nicht verschwiegen werden. Das Zubehörprogramm der sächsischen Kamera ist vor allem für den Makrobereich weit umfassender. Viele Teile sind auch nach der Produktionseinstellung noch verfügbar, werden allerdings zunehmend knapper und in naher Zukunft wohl nur noch auf Börsen oder von einschlägigen Spezialisten wie Heinz Preller feilgeboten. Bedrohlicher ist die Liefersituation bei den Objektiven. Die Zeiss-Jena-Objektive zur Pentacon Six passen zwar alle an die Kiev 60 TTL, sind aber neu nicht mehr komplett verfügbar. Sie bieten eine mechanisch bessere Ausführung als die russischen Originalobjektive zur Kiev und zeichnen sich außerdem durch eine deutlich bessere Verarbeitung aus. Schönheitsfehler wie unsaubere Gravuren oder ein unsauber aufgetragener Antireflexbelag auf der Innenseite des Tubus treten bei den Jena-Objektiven nicht auf.
Eine Ausnahme bildet in dieser Hinsicht das im Set mitgelieferte russische Originalobjektiv Volna ("Wille") 2,8/80 mm; es präsentiert sich makellos und könnte auch ein Westprodukt sein.
Abgesehen vom etwas "grobgeschnitzten" Erscheinungsbild können die Kiev-Objektive vor allem was ihre optische Leistungsfähigkeit anbelangt durchaus mit den Jena-Objektiven konkurrieren. Mindestens genauso bemerkenswert wie die generell sehr günstigen Preise der Kiev-60-Palette sind ein paar Objektive, die auch die Palette zur Pentacon Six sinnvoll erweitern könnten. Das Fisheye Zodiak 3,5/30 mm verblüfft durch seine gute Verarbeitung, sein imposantes Aussehen und seine optische Qualität; es ist mit 450 Mark spottbillig und kostet rund 6500 Mark weniger als das Zeiss-Objektiv gleicher Spezifikation für die Rollei SL 66. Das Kalejnar 2,8/150 mm zeichnet sich durch hohe Lichtstärke aus, und das Telear 5,6/250 mm ist bemerkenswert klein und handlich.
Alle erwähnten Objektive sind auch für die Kiev 88 lieferbar, allerdings haben sie dann einen anderen Bajonettanschluß. Wer Kiev 60 und Kiev 88 gleichzeitig im Einsatz hat, muß sich zwei Objektivsortimente zulegen - es gibt aufgrund des stark unterschiedlichen Auflagemaßes keine Anschlußmöglichkeit über einen Adapter.
Auch die Kiev 60 TTL wird, genauso wie die Hasselblad, im schwarzen Handkoffer als Set geliefert. Neben dem Faltlichtschacht gehört auch ein TTL-Prisma zur Grundausstattung. Die Sucher passen nicht an die Pentacon Six und umgekehrt, im Falle des TTL-Prismas ein klarer Nachteil, denn trotz LED Anzeige gefällt das TTL-Prisma zur Pentacon Six besser, vor allem, weil die Energieversorgung besser gelöst ist. Bei der russischen Kamera kommt nämlich die hierzulande ungebräuchliche 3 LR 9 mit 4,5 Volt Spannung zum Einsatz. Dies ist aber kein Grund zum Verzagen, denn man kann sich mit drei Zellen vom Typ 625 behelfen, indem man die drei Batterien in einen Adapter einsetzt. Tragischer wirkt sich da schon die Stromfresser-Neigung des TTL-Prismas aus. Bleibt es bei einer Aufnahmeserie zwischendurch immer eingeschaltet. so dauert es nicht lange, bis die Batterien ausgelaugt den Geist aufgeben. Daher gilt bei der Kiev 60-TTL die Empfehlung, das Meßsystem nur für den Zeitpunkt der Belichtungsmessung einzuschalten.
Erstaunlicherweise wirkt die - gemessen an westlicher Perfektion - von der Kiev 60 TTL verkörperte östliche Improvisation nicht enervierend auf den Fotografen, sondern ganz im Gegenteil sogar reizvoll. Mit der Kiev 60 ist der Mann oder die Frau hinter der Kamera noch gefordert. Er oder sie hat es noch selbst in der Hand, ob das Foto gelingt oder nicht, und die einst erworbenen Grundkenntnisse über die Fotografie kommen hier nun endlich wieder einmal zum Zuge.
Als ausgesprochene Sammlerkameras werden die russischen Kiev-Modelle wohl kaum Karriere machen, dafür wirken sie optisch zu wenig attraktiv. Allenfalls die Hasselblad-Kopie Kiev 88 TTL könnte sich wegen ihrer Ähnlichkeit zum renommierten Vorbild die Sympathie einiger Sammler sichern. Völlig verkannt hingegen wird zur Zeit noch das "häßliche Entlein" Kiev 60 TTL, das ideal in die von der Pentacon Six verlassene Marktlücke der preiswerten Mittelformat-Systemkamera hineinpaßt. Bei dieser Kamera wird fehlende Eleganz durch hohe Bildqualität und hohe Zuverlässigkeit sowie vor allem durch einen konkurrenzlos niedrigen Preis, der bei etwa 600 Mark für das Set liegt, wettgemacht.

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