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Artikel
1998
Beratung
Interessante Außenseiter: Hasselblad 903 SWC
Das Objektiv mit eingebauter Kamera
Die Hasselblad 903 SWC ist ein Sonderling, wozu sie nicht nur ihr kurioses Äußeres stempelt. Die Idee dieser Kamera basiert darauf, ein Kameragehäuse um ein Objektiv zu bauen, denn auf das Carl Zeiss Biogon 4,5/38 mm kommt es in erster Linie an. Seine vielgerühmte Leistungsfähigkeit soll in einem speziellen Gehäuse zur Entfaltung kommen.
Ein jeder Fotograf kennt die Marke Hasselblad und weiß auch, daß der renommierte schwedische Hersteller Zentralverschluß- und Schlitzverschlußkameras für das Bildformat 6x6 Zentimeter herstellt. Die Hasselbladkameras - allen voran die 500 C/M - wurden weltberühmt. Im Schatten dieser Welterfolge gedeiht seit immerhin 38 Jahren spärlich die Hasselblad Super Wide. Kaum einer kennt sie, viele fragen nach dem Sinn dieses seltsam anmutenden Gebildes mit dem schmalen Gehäuse, dem dominierenden Objektiv und dem aufgesetzten, ein wenig antiquiert wirkenden Sucher. Schon dieser signalisiert uns die erste Besonderheit: Im Gegensatz zu allen anderen Modellen, die Je die Göteborger Fabrik verließen, ist die SWC eine Sucherkamera.
Die erste Hasselblad dieses Typs erschien 1954 und nannte sich noch Supreme Wide Angle. Sie und nicht etwa die 500 C - ging als erste Hasselblad mit Zentralverschluß in die Geschichte ein. Auch besaß sie bereits ein Carl-Zeiss-Objektiv, während frühere Hasselblad Modelle mit Kodak-Ektaren ausgerüstet waren. Alles drehte sich um dieses spezielle Zeiss-Objektiv, ein Biogon 4,5/38 mm mit stark ausgeprägter Weitwinkelcharakteristik und einem diagonalen Bildwinkel von 90 Grad. Um die erwünschte, außerordentlich hohe Bildqualität zu erreichen, erforderte dieses Spezialobjektiv eine Kamera ohne Kompromisse. Eine wichtige Voraussetzung für die gerade in der Architektur-, Reproduktions- oder Landschaftsfotografie erwünschte Verzeichnungsfreiheit ist der symmetrische optische Aufbau des Achtlinsers. Herkömmliche Spiegelreflexkameras sind auf Weitwinkelobjektive in Retrofokus-Bauweise angewiesen, damit noch Platz für den Spiegelkasten ist. Das Biogon erlaubte diesen Kompromiß nicht und wurde daher fest mit der Kamera verbunden.
Die Unterbringung des Verschlusses hingegen bereitete keine Schwierigkeiten - er teilt die Linsengruppen genau in der Mitte. Man entschied sich sogar bewußt für eine Zentralverschlußkamera, weil in dem ultraschmalen Gehäuse, die das Biogon aus optischen Gründen unbedingt benötigt, kein Schlitzverschluß mehr Platz gefunden hätte. Hinter diesem auffallend schmalen Gehäuseteil geht es dann "ganz normal" weiter. Ein gewöhnliches A-12-Magazin bildet den Abschluß.
Im Laufe der Jahrzehnte erfuhr die ursprüngliche Supreme Wide Angle zahlreiche Detailverbesserungen. Aus der Supreme wurde 1959 die Super Wide C (SWC) mit einem Biogon im typischen mattverchromten C-Objektiv-Design und mit Synchro-Compur-Verschluß statt Compur Rapid mit automatischer Anzeige der Schärfentiefe und Lichtwertkupplung. Die SWC/M erschien 1979 mit der Adaptionsmöglichkeit des Polaroid-Rückteils und ab 1982 mit einem Biogon in CF-Ausführung. Den bisherigen Schlußpunkt in der Entwicklung bildet die ab 1988 gebaute 903 SWC in ihrer heutigen Form. Der neu konstruierte Aufstecksucher spiegelt eine Wasserwaage ein und gewährt dem Fotografen den Blick auf das Objektiv, an dem er die Position sämtlicher Einstellringe mit einem Blick kontrollieren kann.
Die Hasselblad 903 SWC weckt wie kaum eine andere Kamera schon durch ihr kurioses Erscheinungsbild den Spieltrieb des Fotografen. Hat man sich erst ein bißchen eingewöhnt, entdeckt man plötzlich, daß sie bei aller feinmechanischen Präzision eine sehr einfache Kamera ist, die zum Fotografieren regelrecht animiert. Die ersten Versuche mit geladener Kamera wollen noch nicht recht gelingen: Es ist für Ungeübte nicht leicht, die Libelle der Wasserwaage genau in den Mittelpunkt zu bekommen, der eine absolut gerade Haltung der Kamera signalisiert, um stürzende Linien oder kippende Horizonte zu vermeiden. Beides sind Schönheitsfehler, die bei Weitwinkelaufnahmen besonders unangenehm auffallen. Stürzende Linien können aber in der Not auch Gestaltungsmittel sein; sie lassen sich bei Architekturaufnahmen mit der 903 SWC nicht immer vermeiden, wenn es unmöglich ist, einen erhöhten Aufnahmestandpunkt zu wählen.
Ein Kleinbildobjektiv muß schon kurze 21 Millimeter Brennweite aufweisen, um mit dem Biogon gleichzuziehen. In der Mittelformatfotografie wird es vom Distagon 4/40 mm FLE zwar unmittelbar erreicht, jedoch nur vom F-Distagon 4/30 mm übertroffen, das aber als Fisheye-Objektiv eine Sonderstellung einnimmt. Trotz des enorm großen Schärfentiefenbereichs, der bei Blende 8 und Einstellung auf 3 Meter von 1,70 Meter bis unendlich reicht, sollte im Interesse extremer Schärfe möglichst auf den Punkt scharfgestellt werden. Leider ist der Sucher im Gegensatz zum Objektiv nicht verzeichnungsfrei. Die Fokussierskala ist nebst Schärfentiefenskala zwar im Sucher eingespiegelt, SWC-Neulinge vergessen aber am Anfang häufig, die Schärfe einzustellen - die Crux einer Sucherkamera ohne Entfernungsmessung. Wehe, wenn man sich dann vorher im Nahbereich bewegt hat, der bei etwa 30 Zentimetern anfängt. Dann wird das Foto hoffnungslos unscharf, und keine Schärfentiefe der Welt kann es mehr retten.
Daß man bei einer Kamera, die etwa 9500 Mark kostet, die Entfernung schätzen muß, ist ein weiterer Tribut an die Sonderstellung der 903 SWC. Ein Meßsucheraufsatz, breit wie die Kamera, hätte schon große Konsequenzen für ihre skurrile Ästhetik.
Tückisch ist zunächst das Gefingere nach dem Auslöser, denn damit wird die vorher mühsam gefundene Libellendeckung wieder gefährdet. Auch hier braucht der SWC-Novize eine gewisse Zeit, um zu begreifen, daß er nicht vorn neben dem Objektiv sitzt, sondern oben auf der Kamera neben dem Sucher thront. Dafür liegt die Super Wide prächtig in der Hand, wie geschaffen für Freihandaufnahmen. Die anfängliche Skepsis weicht nach ein paar Aufnahmen und ein paar Bedienungsfehlern großer Begeisterung. Da kommt einem die Lust auf "Sightseeing" mit der 903 SWC, dann ist plötzlich kein historischer Marktplatz mehr vor ihrem Auftreten sicher - und der Fotograf hat eine Menge Spaß mit der ungewöhnlichen Kamera, die die Blicke auf sich zieht und für viele Nichteingeweihte aussieht wie eine Ur-Hasselblad, ein früher Prototyp.
Neben dem grundsätzlichen Erscheinungsbild und dem Magazin A-12 hat die 903 SWC noch andere Familienmerkmale zu bieten, wie beispielsweise die wertvolle Ausführung mit den makellos polierten Gehäusekanten und die nach einiger Gewöhnung einfache Bedienung. Schwerer fällt schon die Bildgestaltung. Mit einem derart großen Bildwinkel muß man umgehen können. Harmlose Vordergründe werden leicht zu riesigen dunklen Löchern, wenn der Nahbereich nicht gefällig in das Motiv einbezogen wird. Auch die Belichtungsmessung - bei der SWC extern, ohne die Hilfestellung eines TTL-Prismas - muß auf den großen Bildwinkel abgestimmt werden, sonst droht die Dominanz des Himmels, die den Vordergrund "absaufen" läßt.
Die Begegnung mit der Hasselblad 903 SWC bereitete trotz anfänglich auftretender Skepsis großes Vergnügen und erwies sich als kreatives Highlight im Redaktionsalltag. Schade, daß sie so teuer ist, sonst wäre ihr als Viertkamera ein Ehrenplatz im Fotokoffer sicher. Der auf den ersten Blick hohe Preis relativiert sich allerdings angesichts der wirklich enorm hohen Bildqualität schnell - und auch im Hinblick darauf, daß das Distagon 4/40 FLE zur Hasselblad 500 C/M auch schon knapp 7000 Mark kostet. Ohne eingebaute Kamera.
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